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Anselmus' Charaktereinordnung im Goldnen Topf : bürgerlich, phantastisch, oder dämonisch?

Die Darstellung der erkennbaren Welt bei E. T. A. Hoffmann im Goldnen Topf ist genau so komplex wie die der anderen Ereignisse in der Geschichte: es gibt hier drei verschiedene Sphären der menschlichen Existenz, die oft auf ähnliche Weise beschrieben werden, die aber trotzdem ganz deutlich voneinander getrennt sind. Die Hauptgeschichte selbst findet in der alltäglichen oder bürgerlichen Welt statt, die auch die Welt des Lesers ist. Das Gegenteil zu dieser wirklichen Welt taucht dann als die Sphäre des Phantastischen auf, die Anselmus anzieht und verführt, durch das Medium der »lieblichen Serpentina«. Die dritte Weltebene stellt sogleich das Gegenteil zu beiden anderen Sphären dar als auch eine verzerrte Mischung aus ihnen -- die sogennante dämonische oder groteske Welt, die gefährlich für alle Bewohner der anderen Sphären ist. Das Endziel dieser dämonischen Sphäre scheint zuerst die Zerstörung ihrer Gegensätze zu sein, ist es aber in der Tat nicht: anstatt einer zerstörenden Wirkung, löst das Groteske eigentlich den Konflikt zwischen dem Alltäglichen und dem Wunderbaren durch Selbstopferung auf, und wird in die anderen Sphären dabei aufgenommen.

Die Welt des Bürgertums und der Alltäglichkeit steht punkt in der Mitte der Handlung in Hoffmanns Erzählung. Die Geschichte fängt in dieser Welt an, worauf schon der erste Satz hinweist: »Am Himmelfahrtstage, nachmittags um drei Uhr, rannte ein junger Mensch in Dresden durchs schwarze Tor.« (S. 5) Die Zeit- und Ortsbestimmung hier deuten es den Lesern klar an, daß die Ereignisse in ihrer völlig konkreten Welt passieren, was sehr wichtig für das Aufbauen der erzählenden Illusion ist. Die Kennzeichen dieser Alltäglichkeit tauchen dann durch die ganze Geschichte hindurch auf: realistische (im weiteren Sinne) Beschreibungen der gewöhnlichen und »wirklichen« Menschen und deren Umgebungen; Mahnungen an die Vergänglichkeit und manchmal auch an die Lächerlichkeit des menschlichen Lebens -- letzteres kann auch als eine Manifestierung der antibürgerlichen und ironischen Tendenzen Hoffmanns bezeichnet werden; auch wissenschaftliche, nüchterne Erklärungen bestimmter erstaunlichen Ereignisse -- der ganze Stil dieser Darstellung gibt den Lesern eine tiefere Einsicht in die Problematik des Bürgersinnes und der gewöhnlichen Menschen nach der Auffassung Hoffmanns. Auch weist die Stilistik selbst in diesen Beschreibungen auf ihre Gewöhnlichkeit hin: die Sprache, die Hoffmann benutzt, um die Bürgertumsszenen zu schildern, ist eine einfache, schlichte Sprache, die der gewöhnlichen Lage des gemeinen Bürgers perfekt angemessen ist.

Einige Sinnbilder der bürgerlichen Welt kommen auch öfters in der Erzählung vor. Ein wichtiges Symbol der Alltäglichkeit ist also die Ohrringe, die Anselmus zur Veronika gibt, die »nach der neuesten Art gefaßt« (S. 47) sind; auch sind sie ein klares Zeichen der Liebe und der damaligen Verbindung, die Anselmus noch zu der normalen Welt des Lesers hat. Die Musik der Blasinstrumenten, deren Klänge Anselmus hört, als er unterm Holunderbaum sitzt (S. 7), ist auch ein typisch sinnloses Bild der bürgerlichen Gesellschaft, und zeigt deutlich die Ironie und den Spott, womit Hoffmann diese Szenen zu schildern pflegt. Das Symbol, das aber am wichtigsten in den Bürgertumsszenen auftaucht, ist das Bild der Kaffeekanne: diese Kanne, die bei der Punschgesellschaft sowie auch bei dem Traum Veronikas und in vielen anderen Szenen im Haus des Registrators vorkommt, steht in enger Verbindung zu den Symbolen der zwei anderen Sphären, aber ihre Funktionalität und Gewöhnlichkeit beschränkt ihre Wirkung auf die Sphäre des Alltäglichen.

Diese Merkmale der bürgerlichen Welt haben fast alle eine Parallele in der phantastischen Welt. In der Sphäre des Wunderbaren leben die Serpentina und ihre Schwester in einer Ewigkeit, die in starkem Kontrast zu der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz steht. Merkwürdigerweise (in Bezug auf seinen anderswo ironischen Stil) satirisiert Hoffmann diese Sphäre fast nie: es ist die Welt des wahren Künstlertums, die Welt der Genialität und der romantischen Mythologie, die fast als paradisisch und einfach »gut« geschildert wird. Die wahre Schönheit dieser phantastischen Welt verführt dann Anselmus, und stört sein ruhiges (aber wahrscheinlich langweiliges) Leben in den bürgerlichen Kreisen, bis er endlich für die eine oder die andere Welt sich entscheiden muß.

Der Stil in den Beschreibungen der wunderbaren Existenz ist auch das absolute Gegenteil zu denen der bürgerlichen Welt. Hier schreibt Hoffmann als wäre die Erzählung ein Gedicht; die Sprache ist nicht nur schön indem sie schöne Sachen beschreibt, aber die Läute und Strukturen der Sätzen sind auch einfach wunderbar poetisch, mit viel Alliteration, Synesthesie, und Bildersymbolik eingemischt:

 Zwischendurch -- zwischenein -- zwischen Zweigen, zwischen schwellenden Blüten, schwingen, schlängeln, schlingen wir uns -- Schwesterlein -- Schwesterlein, schwinge dich im Schimmer -- schnell, schnell herauf -- herab -- Abendsonne schießt Strahlen, zischelt der Abendwind . . . (S.11)


Wenn man die Schönheit dieses Auszuges mit der Rede eines normalen Bürgers ein paar Seiten später vergleicht, sieht man ganz deutlich die wechselbare Schreibenskraft der Poesie Hoffmanns:

 Lamentier der Herr nicht so schrecklich in der Finsternis, und vexier Er nicht die Leute, wenn Ihm sonst nichts fehlt, als daß er zuviel ins Gläschen geguckt -- geh Er fein ordentlich zu Hause und leg Er sich aufs Ohr! (S. 15)


Es ist aber nicht nur die Sprache, die in der phantastischen Sphäre exquisit ist. Auch die Symbole, die diese Welt repräsentieren, sind überaus schön und, vor allem, echt und gut. Das Hauptsymbol des Wunderbaren ist natürlich der goldne Topf des Titels -- der magische Gegenstand, der dem Salamander-Archivarius gehört, bis er einen Menschen findet, der seine Schlangentochter heiraten will. Dieser Topf steht also genau der bürgerlichen Kaffeekanne gegenüber, als Sinnbild für alle Handlungen und Ziele der repräsentierten Welt. Auch die Ohrringe der Veronika haben eine magische Parallele, nämlich die Edelsteine und funkelnden Blitze, die Anselmus in dem Holunderbaum bewundert. Und, wie bei Hoffmann nur zu erwarten sein soll, ist das ganze Bild vollkommen symmetrisch ausgelegt, denn die Musik der Blasinstrumenten findet auch ihr phantastisches Gegenstück in dem Flüstern und Lispeln der Holunderbaumblätter (S. 10).

Das Bild des Lebens bei Hoffmann ist aber nicht nur zweiseitig, sondern in drei Teilen eingeordnet. Die dritte Sphäre steht in enger Verbindung mit ihren Gegenstücken, aber sie unterscheidet sich auch deutlich von ihnen. Hoffmann hat hier den Begriff des Dämonischen auf ausführliche Weise realisiert: die groteske Welt ist bei ihm nicht einfach häßlich und böse, sondern sie ist eine unklare Mischung aus vielen verschiedenen Aspekten der anderen zwei Sphären. Die Unbestimmtheit herrscht in dieser Welt: obwohl die alte Hexe als häßlich und gemein dargestellt wird, ist sie auch der Veronika gegenüber hilfreich und sanft, und war sogar einmal ihre Amme. Es ist eigentlich nie in diesen Szenen ganz klar, ob man das Ganze als wirklich gefährlich oder als lächerlich betrachten soll; auch ist es schwierig zu sagen, ob das Groteske hier eine vergängliche Existenz oder die Ewigkeit darstellt -- wahrscheinlich ist es weder das eine noch das andere, aber wo ist dann der Mittelpunkt zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit?

Es ist aber eindeutig ausgelegt, daß diese Welt ein störendes Phänomen für die Bewohner der anderen Sphären ist: Anselmus und der Archivarius kämpfen immer gegen die Macht des alten Äpfelweibs, und Veronika, die sich freilich in diese Sphäre aus eigenem Willen hinüberzieht, hat doch Angst vor den schrecklichen Ereignissen in der Nacht des Äquinoktiums. Diese Sphäre ist auch für die Leser störend: manchmal sieht das Geschehen hier etwas rauschhaft aus, und man ist es nie vollkommen sicher, wie die Hinterbedeutung interpretiert werden soll.

Die Symbole des Grotesken in der Geschichte wiederspiegeln auch ihre störende Unbestimmtheit. Gegen die Schönheit und den Schmuck der anderen Sphären kommen in dieser Welt zweideutige Gestalten vor: die Äpfel, in denen Anselmus unglücklicherweise hineinstößt, sind eigentlich keine normale Früchte, als es später erklärt wird, als Luise sich zur Veronika beklagt:

 Laß ab, laß ab von dem Anselmus, das ist ein garstiger Mensch, der hat meinen Söhnlein ins Gesicht getreten, meinen lieben Söhnlein, den Äpfelchen mit den roten Backen, die, wenn sie die Leute gekauft haben, ihnen wieder aus den Taschen in meinen Korb zurückrollen. (S. 54-55)


Es gibt freilich etwas lächerliches und sogar lustiges in dieser Rede, aber (was wieder ein Zeichen der Unbestimmtheit ist) es steckt auch eine schreckende und ernstere Bedeutung dahinter. Wenn ein Apfel auch der Sohn einer Hexe sein kann, ohne daß er im äußeren Anschein etwas außerordentliches zeigt, gibt es dann nicht andere, vielleicht gefährlichere, Geheimnisse in der Welt? Auch deuten die andere Sinnbilder dieser dämonischen Welt auf das Schreckenerregende auf: die Blasinstrumenten und das Blätterflüstern finden eine Parallele in den Jammertönen der Tiere im Hexenzimmer der alten Luise, und der goldne Topf, als Hauptsymbol des Wunderbaren, wird in dem großen Kessel der Hexe einfach dämonisch verzerrt.

Die präzise symmetrische Auslegung der Welt bei Hoffmann erlaubt es den Lesern, diese drei Existenzsphären ziemlich leicht zu erkennen und zwischen ihnen zu unterscheiden; was aber schwieriger ist, ist die Figuren in der Geschichte in eine dieser Sphären einzuordnen. Bei manchen Typen geht es schon gut: die Serpentina gehört offensichtlich in der Welt des Phantastischen, genau wie der Registrator in den Bürgertumsszenen völlig zu Hause scheint. Andere einseitige Gestalten, wie der Konrektor Paulmann, Heerbrands Tochter Fränzchen, die anderen Schlangen, und die Äpfel der Hexe, zeigen hier auch die Merkmale einer einzigen Welt.

Es gibt aber Probleme, wenn man die tieferen, »realistischeren« Charaktere in diese Ordnung einzustellen versucht: sie passen zwar in einer Welt gut ein, jedoch ändern sie irgendwann in der Geschichte ihre Charakterzüge, und neigen doch einer anderen Sphäre zu. Der Archivarius scheint zum Beispiel eine Figur zu sein, die vor allem phantastisch ist. Das Märchen in der dritten Vigilie unterstützt diese Klassifizierung, und die Beschreibungen seines Hauses, seiner Bibliothek, und seiner Töchter sind vielleicht die reinst wunderbaren Szenen der Erzählung. Später aber wird man seiner Außergewöhnlichkeit nicht mehr so sicher: er ist schließlich normaler Vater, und will, daß seine Töchter sich heiraten, bevor sie alt und häßlich werden. Auch seine Magie, womit er Feuer aus seinen Fingern erzeugt, wird wissenschaftlich als »das chemische Kunststückchen« erklärt. Ist er dann immer noch der feurige Salamander, oder war das alles eine romantische Illusion Anselmus', der schon ein bißchen träumerisch und (vielleicht) schwachsinnig ist? Trotz allem wird das Gleichgewicht hier aber verloren, und man sieht am Ende doch, daß der Archivarius ein phantastisches (oder wenigstens merkwürdiges) Teil einer anderen Weltordnung ist.

Auch mit Veronika stößt man auf dieselben Problemen, obgleich die Sphären bei ihr umgekehrt sind. Sie fängt als ganz gewöhnliches Mädchen an: sie hat Hoffnungen, in die höhere Gesellschaft aufzusteigen, aber sie ist völlig realistisch dargestellt, und hat eine gute, solide Weltanschauung -- wenigstens am Anfang. Später aber verliebt sie sich in Anselmus, und diese Liebe zwingt ihr, in die Welt des Dämonischen hinüberzuqueren, wo sie die alte Hexe um Hilfe bittet. Am Ende jedoch kehrt sie wieder um, und wird ein nüchternes Mitglied des Bürgertums -- wenn man das Ende der Geschichte auf diese Art und Weise interpretieren will.

Durch die ganze Geschichte aber hindurch hat man die meisten Schwierigkeiten, Anselmus als Mitglied einer einzigen Sphäre zu betrachten. Er ist zwar Bürger und Student, und hat eines Tages die Möglichkeit, Hofrat zu werden. Ausschließlich bürgerlich ist er aber auch nicht: er träumt, er liebt, und er ist Außenseiter von der umgebenden Gesellschaft -- nur seiner Lächerlichkeit wegen erregt er die Aufmerksamkeit der anderen:

 Die Frauenzimmer verziehen dem wohlgebildeten Gesichte, dessen Ausdruck die Glut des inneren Grimms noch erhöhte, sowie dem kräftigen Wuchse des Jünglings alles Ungeschick sowie dem ganz aus dem Gebiete aller Mode liegenden Anzug....(S. 6)


Trotz seiner Tolpatschigkeit (= grotesk) und seinen Träumereien (= phantastisch) will man es Anselmus zuerst aber gönnen, daß er einfach ein bißchen komisch ist, aber immer noch ein solider Bürger. Er ist es jedoch nicht, worauf die Ereignisse und besonders das Ende der Geschichte hinweisen: entweder springt Anselmus in den Fluß und ertrinkt, weil er seine eigene Zwiespältigkeit nicht leiden kann, oder er heiratet die Serpentina und lebt danach glücklich auf Atlantis -- man wird von Hoffmann selbst diese freie Wahl gegeben. Weil er aber diese zwei Seiten in sich hat, was in der Tat als Andeuten auf die Unbestimmtheit gesehen werden muß, würde ich dann behaupten wollen, das sogar Anselmus Aspekte des Dämonischen zeigt -- er kämpft zwar gegen die alte Hexe und wird auf die Seite des Wunderbaren angeschlossen, aber er selbst weiß nicht genau wie oder wo er sich hinstellen soll. Er muß deswegen weder als Mitglied einer Sphäre noch als »Pendler« zwischen zwei verschiedenen betrachtet werden, sondern als eine ironische, vermischte, aber immer noch sanfte Verzerrung aus allen drei Sphären der hoffmannischen Existenz.





Written and © Nancy Thuleen in 1992 for German 142 at Pomona College.

If needed, cite using something like the following:
Thuleen, Nancy. "Anselmus' Charaktereinordnung im Goldnen Topf : bürgerlich, phantastisch, oder dämonisch?" Website Article. 16 December 1992. <http://www.nthuleen.com/papers/142paper.html>.