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Individuen als Aussenseiter in der modernen deutschen Literatur

Ein häufig wiederkehrendes Thema in der modernen deutschen Literatur ist das Bild des Individuums in der Gesellschaft. In den meisten Werken moderner Schriftsteller erscheint aber das Individuum nicht als zufriedener Mitglied seiner Gesellschaft, sondern als Außenseiter, der von der Gesellschaft auf verschiedenen Weisen zurückgestoßen wird. Aufgrund ihres Verhaltens der Gesellschaft gegenüber können moderne Helden in drei Gruppen aufgeteilt werden: zuerst kommen die Figuren, die Widerstand gegen die herrschende Macht leisten, und deswegen sich selbst von der Gesellschaft entfremden. Auch erkennbar ist eine Gruppe von Opfern der Gesellschaft -- diese versuchen, innerhalb der bürgerlichen Grenzen zu leben, sind es aber wegen der strengen Voraussetzungen ihrer Gesellschaft unfähig, und werden also unwillig zu Außenseiter. Am Ende kommen also die verschiedenen Typen Außenseitern, die aus irgendeinem Grund einfach nicht innerhalb der bürgerlichen Grenzen existieren können, und die zugrunde gehen müssen.

Am leichtesten zu erkennen sind die Hauptfiguren der modernen Schriftstellern, die gegen das herrschende Machtsystem kämpfen. Die Widerstandsgruppe von Studenten in der Weißen Rose ist das beste Beispiel hierfür: diese Studenten gehen wegen ihrer Hoffnung auf eine bessere Zukunft zugrunde -- sie kämpfen also gegen die Nazi-Mächte, und versuchen, Widerstand unter dem Volk aufzuhetzen. Indem sie ihren Kampf aber auszubreiten versuchen, werden sie immer mehr zu Außenseiter in der Gesellschaft, weil die anderen Leuten -- die Studenten, die Professoren, usw. -- sie aus Furcht vor den Nazis vermeiden und ausstoßen.

Auch in Gerhart Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang leistet die Hauptfigur Alfred Loth Widerstand zur Gesellschaft. Er will die Lage der armen Bergleute verbessern, indem er wissenschaftliche Studien über sie schreibt. Der Preis dafür ist aber die Freundschaft seines Jugendfreundes, des reichen Bauers Hoffmann, der Loth aus Furcht vor einer soziopolitischen Veränderung der Lage zurückstoßt. Am Ende des Dramas wird Loth also auch gezwungen, seine neugefundene Liebe Helene zu verlassen, weil sie für seine strengen Voraussetzungen nicht gesund genug ist -- das heißt, ihre Schwester ist trunksüchtig, und Loth fürchtet, daß der Alkoholismus eine genetische Krankheit sein könnte. Loth wird also durch eigene Schuld -- seine Taten sind schon rechtfertigt, aber sie sind immer noch von ihm verursacht -- völlig von der Gesellschaft ausgeschlossen, weil er versucht hat, gegen sie zu kämpfen.

Sogar in den Physikern von Friedrich Dürrenmatt kann man behaupten, daß Möbius Außenseiter wird, weil er Widerstand gegen die Machtverhältnisse seiner Welt leistet. Er gibt vor, wahnsinnig zu sein, um die möglichen Konsequenzen seiner neuen Erfindungen zu vermeiden. Womit er aber nicht gerechnet hat, ist seine Mitmenschen in der Irrenanstalt, die auch Außenseiter geworden sind -- ironischerweise, sie geben es auch nur vor, in der Hoffnung, Möbius' Meinung auf der ihrigen zustimmen zu bringen. Noch ironischer ist das Bild des Fräulein Doktors, die am Anfang als die größte Außenseiterin dargestellt wird -- am Ende ist sie aber die einzige gesellschaftliche Macht. Diese Ironie bringt zum ganzen Stück ein Gefühl der Verwirrung, denn man weiß eigentlich nie, wer als Außenseiter und wer nicht kategorisiert werden sollte. Was aber klar ist: Möbius' Versuch, seine Gesellschaft zu schützen, scheitert, und er bleibt am Ende das, was er absichtlich wurde: Außenseiter.

Die zweite Gruppe der Außenseiter in der modernen deutschen Literatur sind diejenigen, die die Opfer ihrer Gesellschaft werden, und zwar ohne wirklich schuldig daran zu sein. Unteroffizier Beckmann in Borcherts Draußen vor der Tür ist ein klares Beispiel: vom Krieg zurückgekehrt versucht er wieder seinen Platz in der Gesellschaft zu finden. Er kämpft nicht gegen die herrschende Weltanschauung der bürgerlichen Gesellschaft: er akzeptiert ihre Macht, und er erkennt die Notwendigkeit seiner Anpassung. Er scheint eigentlich sogar hineinpassen zu wollen -- er weiß aber nur nicht wie. Freilich macht er Fehler während seines Versuchs: er schiebt die Schuld auf anderen Menschen und er trägt immer noch seine Gasmaskenbrille, ein Andenken des Krieges, anstatt ihn wieder zu vergessen. Er wird aber ohne festen Grund zur Außenseiter gemacht, indem alle seine Mitmenschen ihn zurückstoßen. Seine Weigerung, den Krieg zu vergessen, ist zwar eine Art Widerstand -- aber er kämpft nicht gegen die Gesellschaft, sondern gegen seine eigene Schuldgefühle.

Die Geschichte des Kaspar Hausers in Werner Herzogs Jeder für sich und Gott gegen alle ist auch ein Beispiel eines Opfers der Gesellschaft. Niemand wird hier behaupten wollen, daß Kaspar irgendwie daran schuldig ist, daß er nicht in der Gesellschaft hineinpaßt -- er ist Opfer seiner Lage, und er kann absolut nichts dafür. Er versucht zwar ein »richtiger« Mensch zu werden, und es scheint ihm langsam zu gelingen -- er lernt allmählich sich ausdrücken, und die Leute scheinen ihn sogar als Mitmenschen zu erkennen. Dann aber kommt der Anstoß, vermutlich von seinem Vater, und er stirbt -- sein Versuch ist gescheitert. Kaspar ist also sein ganzes Leben lang Außenseiter gewesen -- aber er war auch Opfer der Macht seiner Gesellschaft.

Das Max Frisch-Drama Biedermann und die Brandstifter behandelt das Thema des Opfers auf einer anderen Weise, und dreht die Verhältnis zwischen Außenseiter und Opfer um sich herum. Biedermann ist hier zwar Mitglied seiner bürgerlichen Gesellschaft, und die Brandstifter sind also die Außenseiter -- es ist aber hier Biedermann selbst, nicht die Außenseiter, der zugrunde geht. Er ist Opfer seiner bürgerlichen Atmosphäre, weil ihre Moral es ihm nicht erlaubt, »unmenschlich« den Brandstiftern gegenüber zu handeln. Er ist eine Verkörperung der bürgerlichen Werte, und er geht an diesen Werten zugrunde -- in diesem Sinne ist er also aber auch Opfer und Täter zugleich. Er geht also daran zugrunde -- nicht, weil er Außenseiter ist, aber weil er völlig ein Instrument seiner Gesellschaft ist, das heißt, er ist Opfer ihrer Macht.

Am schwierigsten auszulegen in der modernen Literatur sind die Werken, deren Helden einfach nicht in die Gesellschaft existieren können. Bei diesen Figuren ist es nicht mehr eine Frage der Schuld: als Helden erkennen sie ihre Unfähigkeit und manchmal auch ihre Schuld, trotzdem können sie nichts dafür, und sie gehen also an ihre Unfähigkeiten zugrunde. Sie sind also nicht Widerstandsleister, denn sie kämpfen in einem gewissen Sinne nur durch verschiedene Aspekte ihres Inneren; auch aber sind sie nicht mehr Opfer, denn sie sind in der Tat an ihren Untergängen selber schuldig.

Ein beispielhafter Held dieser Art ist Kafkas Josef K. in dem Prozeß. K. ist deutlich als Außenseiter zu erkennen, ganz vom Anfang an -- er ist immer am Rand einer Gruppe, und er wird immer als Einzelnen im Kontrast zu der großen Masse geschildert. Was aber schwieriger zu sagen ist, ist der eigentliche Grund seines Untergangs. K. erkennt selber seine Lage als Außenseiter -- was ihm aber nicht einfällt, ist die Gefahr derselben. Er glaubt, daß er allein seinen Weg durchmachen kann (insofern ist er dann dem Widerstandskämpfer ähnlich), aber in Kafkas Welt ist K.'s Lösung einfach unmöglich. Allmählich wird er also von anderen Menschen abhängig -- was auch nicht die Lösung für ihn ist. Er scheint also eine Mischung aus beiden anderen Arten (Opfer und Rebell) zu sein -- zugleich ist er aber keines von beiden. Am Ende ist man dann nur noch verwirrt und fragt sich, was K. hätte anders tun sollen -- man identifiziert also mit dem Außenseiter mehr als mit der Gesellschaft.

Tonio Kröger in der Geschichte von Thomas Mann ist auch so eine Figur, die einfach mißversteht und mißverstanden wird. Er ist zwar ein Bürger, aber »verirrt«, als Lisaweta ihm erklärt. Er ist Künstler, und als solches hat er zwei Teile immer in sich, die gegeneinander kämpfen. Die Gesellschaft tut ihm unrecht, wenn sie versucht, ihn in eine der beiden Kategorien auszusortieren. Zugleich aber tut er sich selbst unrecht, wenn er versucht, einen oder den anderen Teil seines Ichs zu unterdrücken. Beide müssen zusammen existieren, aber die Gesellschaft und Tonio selbst verstehen das einfach nicht. Wie Kafkas Helden ist Tonio an seinem Außenseitersein selbst schuldig -- jedoch ist es etwas in ihm, etwas widerwilliges, das ihm dazu zwingt. Er kann einfach innerhalb der Konventionen der bürgerlichen Moral nicht existieren, bis er am Ende erkennt, daß beide Teile von ihm ebenbürtig sind und zusammen existieren können.

Auf einer ähnlichen Weise läuft Hesses Geschichte des Steppenwolfs: Harry Haller wird auch mißverstanden, und zwar gerade deswegen, weil er widersprüchliche Teile in sich hat, die er zu unterdrücken versucht. Die vielen verschiedenen Teile seines Ichs verfolgen ihm und verursachen seine größten Probleme in der Gesellschaft. Er wird zum Außenseiter, gerade weil er diese Teile erkennt -- und deswegen unterdrückt. Sobald er ihnen freien Lauf läßt, hört das Problematische oder Schwierige des Außenseiterseins für ihn auf -- er bleibt zwar von der alltäglichen bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen, aber er wird zu einem der Unsterblichen, die, praktisch gesprochen, nichts mehr mit der Gesellschaft zu tun haben. Er kann immer noch nicht in der Gesellschaft passen, aber jetzt ist es kein Problem mehr für ihn -- er lebt nicht mehr in der Gesellschaft, und hat seine eigene neue Welt geschaffen, mit einer neuen Moral und einem neuen Begriff des Außenseiters.

Es muß aber nur noch erwähnt werden, daß viele moderne Werken nicht nur in einer einzigen dieser Kategorien passen können. Kafka zeigt, wie schon gesagt, viele Elemente von allen drei Arten in seinen Helden: K. ist nicht nur innerlich an seiner Lage schuldig, sondern er ist auch zugleich Opfer und Täter, ähnlich wie Biedermann. Auch der Film Der Blaue Engel ist nur unbestimmt zu kategorisieren: Professor Rath paßt freilich nicht in der Gesellschaft (und auch nicht in der Kabarett) ein -- aber er wird auch zu einem Opfer der Gesellschaft, als er zum Auslachen auf der Bühne gestellt wird. Er ist auch, könnte man sagen, Außenseiter unter den Außenseitern, was vielleicht als der schlimmsten Fall des Außenseiterseins hier geschildert wird -- als es auch in Dragon Chow der Fall ist, wo der Außenseiter unter den Ausländern am elendsten ist. Im allgemeinen passen aber die meisten Werken moderner Erzähler schon in dieser Schema herein, und sie vermitteln dadurch das deutliche Bild einer Gesellschaft, in der das Individuum als Außenseiter zugrunde gehen muß, gerade weil diese Gesellschaft keine Außenseiter ertragen kann.





Written and © Nancy Thuleen in 1993 for German 154 at Pomona College.

If needed, cite using something like the following:
Thuleen, Nancy. "Individuen als Aussenseiter in der modernen deutschen Literatur." Website Article. 26 April 1993. <http://www.nthuleen.com/papers/154aussen.html>.