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Wahrheitssuche und komische Elemente im Zerbrochnen Krug

Das Thema der Wahrheitsfindung liegt zum Grunde des ganzen Konflikts in Kleists Zerbrochnen Krug. Es geht in diesem Stück nicht nur darum, daß das Gericht die Wahrheit der ganzen Geschichte mit dem Krug und mit Eve herausfinden soll, sondern auch darum, daß Adam, der hier für diese Entdeckung verantwortlich sein soll, eigentlich genau das Gegenteil bewirkt, indem er die Wahrheit zu verstellen versucht. Alles, was er sagt und macht, führt dazu, daß man nicht mehr mit Sicherheit sagen kann, was in der Tat passiert ist. Sogar diejenige, die es eigentlich am besten wissen soll, wird selbst durch Adams verwirrende Redensarten zum Schweigen gebracht: Eves Worten werden von Adam umgedreht und manipuliert, bis sie fast alle Bedeutung verlieren. Ihre Aussagen werden zum Beispiel so von Adam wiederholt, daß sie gerade das zu sagen scheinen, was er von ihr hören will: als Eve zum Beispiel verzweifelt äußert: "Wer leugnet Euch, daß ichs gesagt," greift Adam dies als endgültigen Beweis gegen Ruprecht auf: "Da habt ihrs. [...] Schreibt auf!" [1] Auch agieren die beiden öfters als Komplizen in der ganzen Affäre: nachdem Adam sie gewarnt hat, daß Ruprecht wahrscheinlich seinen Tod im Dienste des Staates finden wird, tut Eve ziemlich alles, was Adam von ihr verlangt, damit ihr Geliebter seine Pflicht nicht ausüben muß.

Das sind nun alles höchst ernste Themen, die hier besprochen werden. Die Suche nach der Wahrheit spielt nicht nur im Gerichtszimmer des Dorfes ab, sondern ganz allgemein im täglichen Leben der Dorfleute und daher der Menschheit. Für einen Trauerspiel wäre dieses Thema -- die Gestaltung aber natürlich nicht -- perfekt angemessen, wie man in der Tat sieht, wenn man den Zerbrochnen Krug mit der Ödipus-Tragödie oder mit anderen tragischen Werken der Antike vergleicht. Kleist hat aber daraus auf interessanter Weise eine Komödie gemacht, die also dieses Thema der Wahrheitsfindung mit einem äußerst entwickelten Situations- und Charakterkomik verbindet. Diese Verbindung der komischen und tragischen Elemente erzeugt hier aber keine Tragikomödie, wie in Lenzens Hofmeister der Fall ist, sondern das Stück bleibt ganz deutlich eine Komödie, über die man zugleich lachen und nachdenken kann, und durch die man am Ende doch zu keinem tragischen Katharsis kommen darf.

Die Weise aber, auf der Kleist seine Komödie als solche gestaltet hat, ist vielseitig. Am Anfang des Stückes wird es dem Publikum ohne Zweifel klargestellt, daß es hier um eine einfache, sogar leicht lächerliche Person geht, mit der man sich nicht tragisch identifizieren kann. Adam, den wir schon als Hauptfigur erkennen sollen, hat jedoch in der ersten Szene fast die Wirkung eines Clowns: aus allem, was ihm vorgefallen ist, macht er einen Witz oder ein Wortspiel. Sofort erkennt man also, daß wir hier in einer Komödie sind. In der Tat ist die Figur von Adam eine der wichtigsten komischen Elemente des Stückes: immer steht er im Zentrum des Lachens oder des Witzes, auch wenn er selber dafür nicht verantwortlich ist. Obwohl er doch eine Stelle der gesetzlichen Macht besitzt, sehen wir, daß er fast keine Macht mehr ausüben kann, besonders nachdem Walter ins Dorf ankommt. Adam wird vielleicht am Anfang noch von den Dorfleuten ernstgenommen, aber nur in seiner Kapazität als Richter. Als einer ihrer Mitmenschen ist er ihrem Respekt nicht würdig, und zwar aus demselben Grund, der ihn zum komischen Helden macht: er nimmt sich viel zu ernst. Er hält sinnlos fest an seine Macht als Dorfrichter, obwohl er die sittliche und ethische Veranlagung dazu längst verloren hat. Er kann also, vom Anfang an, keinen tragischen, kathartischen Effekt auf dem Publikum haben, weil er für sie weder ein Gegenstand der Identifizierung noch der Hochachtung ist. Wie es Reh erklärt, wird er in dem Moment zum komischen Helden:

 Dem Er-leiden des tragischen Helden entspricht das Mit-leiden des Zuschauers. Der komische Held dagegen kommt sich selbst nicht komisch, sondern ernst, in manchen Fällen tragisch vor. Komisch ist er nur für den Zuschauer. [2]


In der Tat sieht Adam sich selbst als leidender, fast tragischer Held: obwohl er möglicherweise seine Schuld erkennt, will er sie nicht bekennen, und tut alles, wozu er fähig ist, die eventuelle Enthüllung zu verhindern. Sogar in seinen Witzen sehen wir seinen Selbstmitleid: er bedauert seine eigene Lage schon ganz am Anfang des Stückes, was ihn in den Augen des Publikums sicherlich nur noch lächerlicher macht, weil bis jetzt seine Lage gar nicht ernst, und seine Reaktion also übertrieben aussieht.

In dieser Hinsicht ähnelt also Adam den Figuren in vielen Dramen von Molière, die zwar komisch handeln und wirken, die aber trotzdem ernsthafte menschliche oder gesellschaftliche Laster darstellen. Sie unterscheiden sich aber darin, daß Adam hier nicht nur als lasterhafter Held und lächerlicher Mensch geschildert wird, sondern auch als Teil einer allgemein komischen Lage. Das Dorf, in dem sich das ganze Drama abspielt, ist der perfekte Ort für eine solche Handlung, die sich mit den einfachen, manchmal auch ordinären Leuten beschäftigt. Das Dorf ist zwar ähnlich zu den deutschen Dörfern, mit denen das deutsche Publikum wohl vertraut wäre, es liegt aber nicht in Deutschland, sondern in den Niederländen, was eine Distanzierungswirkung verursacht. Auch sind die Leute, die wichtige Rollen im Spiel haben, vertraute Charaktertypen: die alte, ziemlich gutmütige aber erregte Frau Marthe, die ihre Tochter und ihren wertvollen Besitz beschützen will, der kluge und ehrgeizige Schreiber Licht, als auch andere Figuren sind hier ganz normale Erscheinungen auf der komischen Bühne, die hier das Gefühl der Vertrautheit nur verstärken. Diese Vertrautheit wird auch wichtig, weil die Charaktere offenbar keine "wirkliche" Leute sind, auch sind sie keine klare Anspielungen auf irgendwelche zeitgenössische Persönlichkeiten. Also kann das Publikum mit den Leuten im Dorf einigermaßen identifizieren, ohne dabei die Distanz zu verlieren: das Publikum bleibt von den Ereignissen im Dorf völlig ausgeschlossen, weil wenig Möglichkeit einer tragischen Beziehung zu dem eigenen Leben besteht. Die Handlung kann man zwar übertragen, auf einer bestimmten Weise also auch beziehen, aber einen direkten Anschluß gibt es nicht. Das Dorf steht in der Welt des Dramas isoliert und mit einfachen, sogar lustigen Personen gefüllt, was dann die komische Wirkung des Stückes besser ermöglicht: wie Reh es nennt, ist dieses eine Funktion der "im Lachen zum Ausdruck kommenden inneren Distanzierung des Zuschauers." [3] Wenn man bedenkt, wie das Drama anders wirken würde, wenn das Dorf nicht isoliert auf dem Land stünde, kann man es besser verstehen: die Isolierung der Lage, die Entfernung von allen wirklichkeitsnahen Anspielungen, erlaubt also die Möglichkeit des Lachens: sonst wäre das Thema überhaupt zu ernst geworden. Weil aber die Suche nach der Wahrheit hier in dem begrenzten Gebiet des Dorfes, und zwar eigentlich nur in diesem einen juristischen Fall, eingeschränkt ist, kann es noch als komisches Thema funktionieren.

Eine der Hauptgründe aber für dieses Funktionieren des ernsten Themas ist die Sprache im Stück überhaupt. Weil der Zerbrochne Krug ein analytisches Drama ist, passiert hier nicht viel, was man richtige Handlung nennen könnte. Das heißt, die Sprache, oder das Sprechen, wird im Stück selbst zum Handeln: es ist die Sprache Adams, die es uns zum Beispiel klarmacht, daß er der eigentliche Täter des Verbrechens war. Er muß das Ganze auch nicht ausdrücklich auslegen; wir kommen zu der nötigen Erkenntnis schon lange vor dem Ende der Gerichtsszene, wo es dann den anderen klar wird; Adam hat schon durch das ganze Drama genügend Hinweise darauf fallen lassen.

Trotz des Untergangs des Hauptcharakters kommt das Drama zu einem glücklichen, oder wenigstens keinem tragischen Ende, wobei aber ein Deus-ex-machina in Form des Gerichtsrat Walters gebraucht wird. Die Sprache, die es Adam ermöglicht hat, die Wahrheit so lange zu verhüllen, ist es auch, was Walter zu seinem Einsicht bringt, und also das Ende des dramatischen Konflikts auslöst. Walter erkennt durch die Lügen und komisches Redensverhalten von Adam, daß er etwas verstellen will, muß ihn aber mit dem Prozeß fortfahren lassen, um allgemeine Unruhe, sogar einen Aufstand, zu verhindern. Am Ende kann er aber doch einen komischen Ausgang zum Stück noch herbeiführen, weil der Spruch gegen Ruprecht es Eve zwingt, endlich die Wahrheit auszusprechen. Es ist auch auf einer anderen Weise die Sprache Adams und der anderen Figuren, die die Bezeichnung "Komödie" für das Stück bestätigt: die Witze und Wortspiele, die das Geschehen im Drama in der Tat entfalten, erzeugen auch das Lachen, wobei der Endeffekt des Dramas ein komischer wird. Auch das Thema der Wahrheitsfindung, das vor allem anderen das Geschehen im Drama motiviert, ist mit der Sprache eng verbunden: durch die Sprache suchen Marthe, Walter, und Licht die Wahrheit zu enthüllen, Adam sie aber zu verstellen. Adams eigenartiges Talent, die Worte im Munde des vor ihm stehenden Zeugen umzudrehen, bringt ihm einen flüchtigen Aufschub des kommenden Untergangs, kann ihn aber schließlich vor der Macht der Wahrheitssuchenden nicht schützen. Die Verbindung also des potentiell tragischen Themas der Wahrheitsfindung mit der sprachlichen Handlungen der Charaktere selber führt das Stück in das Bereich der Komödie deutlich ein.



Zitate:

(1)  Heinrich von Kleist, Der zerbrochne Krug (Stuttgart, 1983), Z. 815-818. [return to text]
(2)  Albert M. Reh, "Der komische Konflikt in dem Lustspiel Der zerbrochne Krug". In: Walter Hinderer, Hrsg. Kleists Dramen: Neue Interpretationen (Stuttgart, 1981), S. 96. [return to text]
(3)  Reh, S. 97. [return to text]





Written and © Nancy Thuleen in 1994 for German 940 at the University of Wisconsin-Madison.

If needed, cite using something like the following:
Thuleen, Nancy. "Wahrheitssuche und komische Elemente im Zerbrochnen Krug." Website Article. 15 November 1994. <http://www.nthuleen.com/papers/940paper3.html>.