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Das Volkslied bei Herder

I. Entstehung der Volksliederprojekte

Herder hat sich eigentlich von Anfang an für Volkspoesie und andere Dichtung interessiert; er las Shakespeare (wie wir nächste Woche besprechen werden) und auch Ossian, und fanden in ihnen den volkshaften Ton, den er so schätzte. Auch kamen Mitte des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Liedersammlungen heraus, besonders aus England, die als Anregung für Herder dienten. Beispielhaft war Percy's "Reliques of Ancient Poetry," die auch in Deutschland viel Aufsehen erregte. Sogar Lessing förderte Herders Interesse für Volkslieder: in seinem Vorwort zu einer deutschen Liedersammlung, den Grenadierliedern von Gleim, beschrieb Lessing das "poetische Genie" eines "ungekünstelten Kriegers," die seine Ballade mit Elementen seiner ländlichen und natürlichen Umwelt gefüllt hat.

In den englischen Werken, die Herder las, sah er nun nicht die Lieder eines fremden Volks, sondern waren die Engländer für Herder auch Germanen, also Deutsche. Daher erklärt sich auch seine Vergleiche zwischen den altdeutschen Barden, den nordischen Skalden, und sogar den schottischen oder gaelischen Sängern wie Ossian (obwohl die letzteren eigentlich keine Germanen waren). Besonders dieses Verstehen der englischen Lieder als Vorfahren für die Deutschen spielt eine wichtige Rolle bei Herders Beschreibung der Funktionen und kulturellen Werte des Volksliedes, wie wir später sehen werden.

Als Herder in Straßburg war, wollte er selbst mit einer Sammlung von Volksliedern anfangen; also schickte er Goethe aus, um authentische deutsche Volkslieder zu sammeln. Das hat nicht viel gebracht: denn es war schon zu sehen, daß das Volkslied an und für sich schon am Aussterben unter der Bevölkerung war. "Goethe machte die Erfahrung," schreibt Gaier, "daß die jungen Leute nur Schlager sangen und allein bei den ältesten Mütterchen alte Lieder zu finden waren." (G 893) Also konnte Goethe nur 14 Lieder finden, von denen er auch die Melodien aufschrieb und Herder zuschickte.

Unter Einfluß von diesen und anderen Liedern, schrieb Herder also 1771 seinen Aufsatz über Ossian, die wir besprochen haben. Dieses Werk "löste die Volksliederbewegung aus" -- in den nächsten Monaten und Jahren wurden eine Menge Sammlungen und Übersetzungen veröffentlicht, die sich nach den Herderschen Ideen orientierten.

Danach arbeitete Herder fleißig an einer eigenen Sammlung von Volksliedern, die 1774 unter der Titel Alte Volkslieder erscheinen sollte. Leider kam diese nie zu Veröffentlichung: es gab ziemlich viele Probleme mit dem Drücker und Verleger, auch aber geriet Herder in einen Streit mit vielen Kritikern, unter ihnen Friedrich Nicolai. Dieser kritisierte und verspottete Herder heftig wegen seiner Suche nach einer volkshaften Originalpoesie; sogar Hamann protestierte gegen Herders stilistische Meinungen, was die ungekünstelte Sprache dessen Lieder anging.

Die Vorreden aber zu dieser Sammlung der alten Volksliedern bilden eine einheitliche Auslegung von Herders Ansichten und von seiner Theorie der Volkspoesie. In vier Bänden geschrieben, mit also vier Vorreden, beschäftigt sich dieses Werk nicht nur mit englischen und deutschen Volksliedern, sondern auch mit exotischen (z.B. peruanischen oder läppländischen) Volksdichtungen; auch enthalten die Vorreden Herders eigene Übersetzungen aus Shakespear und seine stilistische Vergleichsversuche der sehr frühen englischen, nordischen, und altdeutschen Sagen und Poesie.

Die Vorrede zum zweiten Band dieser Sammlung wurde jedoch einzeln gedruckt, und erschien 1777 mit der Titel "Von Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst." Hierin kritisierte Herder unter anderem die klassizistischen Maßstäbe für die Poesie, die die gegenwärtigen Kritiker auch in bezug auf alte Werke anwenden wollten.

Endlich hat Herder aber seine eigene Sammlung von Liedern doch ausgegeben: eine neubearbeitete Version kam 1778 in zwei Teilen heraus, und hieß einfach Volkslieder. Enthalten wurden viele Lieder aus verschiedenen Ländern, unter ihnen eine Reihe von englischen Übertragungen. Auch aber hat Herder mehrere neugeschriebenen Gedichte in die Sammlung miteinbezogen. Herder hat einige selbst geschrieben, aber er benutzte auch ältere Gedichte, wie z.B. von Luther, als auch von zeitgenössischen Dichtern wie Goethe oder Matthias Claudius. Hinten im Handout habe ich drei Gedichte angehängt, die in dieser Sammlung erschienen -- Herder meinte, diese Gedichte sind alle Beispiele dafür, wie die neueren deutschen Dichter ihre Poesie gestalten soll. Die Eigenheiten dazu besprechen wir bald; zunächst aber sollten wir die Gedichte vielleicht anschauen.

Die Rezeption dieser Sammlung war zwiespältig. Unter den älteren Kritikern wurde es fast ignoriert. Nicolai kritisierte Herder schon wieder, diesmal weil Herder, meint Nicolai, von dem Volk zu viel zu erwarten scheint, als ob das Volk auch musterhafte Poesie singen könnte. Lessing verteidigte aber Herder dagegen, insofern, daß er Nicolai beschimpft: Lessing meint, daß Nicolai keinerlei Unterscheidung zwischen Volk und Pöbel mache, und von daher Herders Ansichten nicht verstehe. Die Sammlung der Volklieder aber wurde von den jüngeren Dichtern enthusiastisch aufgenommen, und diente also als Anregung für viele spätere Liedersammlungen, wie z.B. Des Knaben Wunderhornˆvon Brentano und Arnim, die 1806 erschien.


II. Inhalt der Volkslieder-Sammlung

Herder ließ eigentlich viele Lieder in diese Sammlungen nicht aufnehmen. Er hatte eine Menge Lieder gesammelt, aus allen Völkern und Ländern, aus denen er dann nur einzelne Lieder auswählte, die als musterhafte Volksdichtung anzusehen waren. Er hatte dazu ganz bestimmte Kriterien und Begriffe, denen er folgte: ein Lied mußte für ihn bestimmte erzieherische und kulturelle Funktionen erfüllen, wie wir bald sehen werden.

Auch ein Grund dafür, daß Herder relativ wenig wirklich alte Lieder miteinbezogen hat, ist, daß es wenige gut erhaltene Beispiele gab. Wie Goethe schon erfahren hat, war die Verschwindung des Volksliedes selbst aus der kulturellen Tradition schon eine wirkliche Gefahr. Man hatte in Deutschland bisher keine Tradition des Sammelns gehabt. In England war die Lage viel günstiger gewesen, zum Teil weil man da solche Dichter wie Shakespear hatte, die schon in ihren eigenen Werken volkspoetische Lieder und Gedichte eingebaut hatten. Also, meint Herder, mußte das Volklied von dem Untergang bewahrt werden, damit man nicht nur die schönen Lieder, aber auch die eigene Kulturerbe und Kulturgut beschützt.

Statt also dieser alten authentischen Volkslieder, enthält Herders Sammlung auch mehrere neuere Dichtungen: diese bezeichnete er aber auch als "Volkslieder," und wies manchmal auf die wirklichen Dichter solcher Lieder fast gar nicht hin. Diese neugeschriebenen Lieder waren für ihn also auch ein Teil der Kulturgut: sie sollen als Beispiele und Höhepunkte betrachtet werden, damit man sehe, wie auch heute man Volkspoesie schreiben kann.

Die Reihenfolge der Lieder wurde von Herder ganz bewußt bestimmt: sie sollte zum Verständnis der Zweck des Ganzen dienen. Wie Gaier es ausgelegt hat, ist eine Entfaltung im Werk zu sehen, wenn man die Thematik der Gedichten näher anschaut. Zuerst kommen die Lieder, die den Menschen in persönlicher und gesellschaftlicher Bindung zeigen, und dann in Natur- und Wunderbeziehungen. Danach kommen Gedichte, die sich mit dem Thema der Befreiung in Liebe, Kampf, und Kunst beschäftigen, und dann auch Nachgedanken über den äußeren und inneren Menschen. Die Sammlung schließt also mit Liedern, die von Authentizität und Künstlichkeit, oder von Bestimmung und Selbstbestimmung handeln. Im ganzen Werk also entfaltet sich eine anthropologisches Interesse Herders: "das Thema des Menschen, sofern er sich mit seinen Verhältnissen gegeben und aufgegeben ist" (G 923)


III. Definition eines Herderschen Volksliedes

Herders Begriff eines Volkslieds unterscheidet sich in vielen Hinsichten von der konventionellen Bestimmung, die wir auch heute einem Volkslied zuschreiben. Normalerweise, im 18. Jahrhundert wie auch heute, wird ein Volkslied als solches betrachtet, wenn es ein melodisch einfaches Lied ist, mit dem der größte Teil der Menschen innerhalb einer bestimmten Kultur vertraut ist. Das Lied ist sehr oft anonym, oder der ursprüngliche Autor spielt keine wichtige Rolle für die Popularität des Liedes. Auch wird ein solches Lied gewöhnlich nicht als hohe Kunst oder Literatur angesehen: es wird also nicht in der Schule, sondern zu Hause gelernt. Ein Volkslied gehört zur Kulturgut eines Volkes, und drückt auch Aspekte dieser Kultur deutlich aus: es kann von der Natur oder von Liebe oder vom alltäglichen Leben handeln, immer aus der Sicht eines gemeinen Menschen, eines Mitglieds des Volkes.

Herder aber sieht die Sache ein Bißchen anders. Bei ihm kommen die Begriffe "Volk" und auch "Lied" auf einer Weise zusammen, die das Volkslied ganz andere Merkmale gibt. Zuerst das "Volk" bei Herder, wie wir im Seminar schon angesprochen haben.

"VOLK" hat bei Herder zwei verschiedene Bestimmungen: beide sind bei dieser Frage wichtig. Erstens das Volk als Nation oder Kultur: zum Beispiel das deutsche Volk, das eine gemeinsame Kultur, Tradition, und Denkungsart teilt. Dieser Begriff wird für uns problematisch, weil er aus der heutigen Sicht schwer zu verstehen ist. Sprache, zum Beispiel, spielt in dieser Definition schon eine Rolle, aber nicht als bestimmendes Element: wie wir gesehen haben, gehören für Herder die Engländer, die Deutschen, und auch die Skandinavier zum Volk, in diesem Sinne, obwohl sie ganz verschiedene Nationen sind.

Zweitens steht das Volk bei Herder als Vorstellung aller gemeinen Menschen, wie wir in bezug auf Philosophie zum Besten des Volkes besprochen haben. Volk im Kontrast zu den Philosophen, aber auch in Kontrast zum Pöbel, was bei Herder eine ausgesprochen wichtige Unterscheidung ist: Herders Begriff des Volkes ist eine edle, erhabene Vorstellung, die das Volk als gute und würdige Menschen ansieht -- gar nicht als Pöbel, wie Nicolai es sich vorstellte. Also ist das Volk bei Herder ein Idealbegriff: eine Vorstellung eines Volkes, das in der Wirklichkeit nie zu finden wäre, jedoch aber als theoretische Bestimmung gilt.

Auch ist Herders Vorstellung eines Liedes zum Teil eine ideale, denn hier spielen auf einmal viele Aspekte zusammen. Ein Lied ist für Herder schon eine Melodie und also Musik, aber es ist nicht nur musikalisch zu verstehen, sondern auch philosophisch und auch vom Inhalt des Liedes abhängig. Herder spricht von seiner Vorstellung des Liedes so: "Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde: seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck 'Weise' nennen könnte." (H 246) Diese Weise des Liedes, die er an anderen Stellen auch den Ton des Liedes nennt, bezieht sich also nicht nur auf die musikalische Struktur, sondern auf die Gesamtheit der Eindrücke, oder "die Seele des Liedes." Ein Lied hat für Herder "Kürze, Wurf, und Gang" -- das heißt, es ist voller Handlung, sowohl in der Musik als auch im Ausdruck des Textes.

Also kommen wir zum Begriff des VOLKSLIEDS bei Herder. In der Tat hat Herder den Ausdruck "Volkslied" zum ersten Mal benutzt; Gaier nennt es "eine von Herder entdeckte oder erfundene Gattung" (G 844). Das Volkslied drückt die Seele oder das Wesen des Volkes aus, und es steht in Harmonie mit der kulturellen und allgemeinmenschlichen Eigenheiten selbst. "Das gemeine Volk liebt [Volkslieder] und die feinsten Kenner schätzen sie," (G 868) weil die Lieder ihre eigene menschliche Natur widerspiegeln. Auch ist das Volkslied voller anschaulichen Handlungen und Bildern, die der Ganzheit der Eindrücke beitragen: im Lied soll man mit den Augen sehen und mit dem Herzen verstehen (G 885). Das Volklied ist also ein Lied des Volkes, aber es ist auch ein Lied "fürs Volk zur Bildung zum Volk." (G 871)


IV. Ziele der Sammlungsprojekte: erzieherisch

Herder folgt einem bestimmten Plan, indem er seine Volksliedersammlung und auch die theoretischen Schriften dazu veröffentlichte. Er wollte nicht nur die Kulturgut für seine Landsleute aufbewahren, sondern er wollte das Volk selbst erziehen, damit man bessere Selbstkenntnis und damit bessere Literatur entwickeln könnte. Gaier beschreibt also die alten Volkslieder als "Instrument der Erziehung zur nationalen Denkart und nationalem Bewußtsein ... auf dem Horizont der allgemeinmenschlichen Volk-Idee." (G 928)

Herders Ziel bei diesen Liedern hat auf einmal zwei Aspekte: er hat sowohl nationale als auch übernationale Absichten, was schon in seinem Begriff "Volk" zu sehen war. Er will das Volk als Nation erziehen, aber er will es auf eine Weise tun, damit das Volk sich als Teil der allgemeinen Menschheit versteht. In anderen Worten, "die nationale und die anthropologische Tendenz sollten in der Stimme einer idealen Menschheit zusammenklingen" (G 844) Diese Synthese des Nationalen und des Anthropologischen führt dazu, daß Herder diese Volkslieder nicht als verschiedene Ausdrücke der Nationen versteht, sondern als, wie er eine spätere Sammlung auch nannte, "die Stimme der Völker."

Die Funktionen der Volkslieder können mehrfach beschrieben werden. Zuerst kommt für Herder die geschichtliche Ebene: sein ethnologisches und sprachliches Interesse für die Vergangenheit führt ihn dazu, in den alten Volksliedern die ursprünglichen Ideen der Menschheit zu suchen. Man kann, meint er, in der alten Poesie die starke ungekünstelte Dichtung aus dem Volk erkennen, die man schätzen und auch als Vorbild ansehen kann. Zur selben Zeit entdeckt man in den Liedern der alten Deutschen (oder Engländern) eine ursprünglich deutsche Denkart, die zeigen kann, wie die Vorfahren ihre Welt verstanden haben, und die auch erklärt, warum wir unsere Welt heute so verstehen.

Dazu kommt nun auch ein ethnologisches Interesse. Herder will, daß das deutsche Volk sich selbst als Volk versteht, auch aber fremde Völker anerkennt und kennenlernt. Volkslieder können damit helfen, denn sie "dienen zur Erkenntnis der Denkart der eigenen und fremder Nationen" (G 878), weil man in ihnen die Mittel hat, kulturelle und menschliche Natur in direkter Form zu vermitteln. Durch Volkslieder kann man "fremde Denkarten in die eigene übersetzen" (I 37) und damit sich zum selbstbewußten Volk erziehen. Dieses ideale Volk hat, nach Herder, reizende Einfalt und naiver Witz, was sich dann auch in ihren Liedern ausdrückt.

Ähnlich dazu ist Herders Streben nach der Förderung und Erhaltung des Nationalbewußtseins, hauptsächlich in bezug auf Literatur. Es ist ihm wichtig, daß Deutschland sich nicht nach der Klassik der alten Griechen orientiert, denn sie waren keine Deutsche: sie sind also als Vorbilder für den deutschen Geist nicht geeignet. Statt also der antiken Klassik, will Herder die heutige Literatur zu einer nationalen Höhepunktsliteratur erziehen, und zwar auf grund der alten deutschen Vergangenheit -- was man durch die Volkslieder erkennen kann. Der Vorteil, wenn man die Volkslieder als Vorbild nimmt, besteht darin, daß man einen "freien Gebrauch des Fremden und des daran bewußt werdenden Eigenen" (G 844) entwickelt: man schöpft also eine Literatur, die ihrer eigenen Historizität bewußt ist.

Auch sieht Herder eine Funktion des Volksliedes in der Wiederaufrichtung des allgemeinmenschlichen Geistes und der Literatur. Wie wir im Seminar schon diskutiert haben, sieht Herder die heutige Literatur als nicht mehr poetisch, nicht voller Leben und Leidenschaft. Aber alte Volkslieder können diese verschwindende Leidenschaft und Phantasie der Gegenwartspoesie wiederbeleben. Volkslieder "dienen als Anregung und Materialien für künftige Dichtung." (G 878) Herder warnt aber sehr streng davor: man soll diese Volkslieder nicht als reine Muster nehmen, aber vielleicht als Vorbild. Man soll danach streben, eine ähnliche Qualität im Ton oder Weise zu erreichen. "Nacheiferer wecke man, nicht Nachahmer" (I 50), schreibt er.

Durch die Sammlung der Volkslieder kann man eine Ganzheitsthematik klar erkennen, indem diese Lieder versuchen, alle Menschen zum Volk zu machen. Sie sprechen jeden Menschen an, ganz egal ob er Bauer oder Philosoph ist, solange er Volk ist. Die Menschen werden mit der ganzen Seele erfaßt, und sehen sich selbst im Lied widerspiegelt. Das Wichtige also an dem Volkslied: es zeigt, "daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privaterbteil einiger feinen, gebildeten Männer." (G 851) Die Volksliedersammlung sieht sich also als Spiegel einer übernationalen, jedoch immer europäischen, Kultur, die viele Nationen miteinschließt. Eine Sammlung der Nationen wird also "eine lebendige Stimme der Völker, ja der Menschheit selbst." (G 852)

Angesichts dieser vereinigenden Rolle der Volkslieder bleibt aber bei Herder eine Autonomie des Individuums in der Geschichte erhalten. Herder übersieht das Einzelne nie; in der Tat versucht er immer, Menschen und Ideen als individuelle Wesen zu verstehen, oder "die Sache selbst in ihrer Unvergleichbarkeit, das besondere Detail aus seinem Zusammenhang zu verstehen." (I 21) Ein Verstehen des Details auch innerhalb seiner geschichtlichen Umwelt ist bei Herder auch immer der Fall, denn der Mensch ist immer Teil seiner Zeit, seiner Kultur, und seines Volkes.


V. Problematik

Es gibt möglicherweise in der Herderschen Auslegung einen Widerspruch, wie ich schon angedeutet habe. Die Sammlung der sogenannten "Alten Volksliedern" enthält auch neue, künstliche Gedichte im Stil der alten, wie z.B. Goethes "Heidenröslein." Auch sind mehrere Pastiches aus verschiedenen Ländern beigelegt, die verschiedene Aspekte der alten Poesie halt zusammenschmelzen. Dann gibt es sogar die Texte, die Ossian als Höhepunkt der ungekünstelten, ursprünglichen Dichtung loben, obwohl er eigentlich, wie wir gesehen haben, fast völlig neugedichtet war. Jedoch warnt Herder davor, die alten Lieder nur als Muster zu nehmen, und ihnen nachzuahmen. Wie sollen wir es dann verstehen, daß er solche gekünstelte Lieder in seine Sammlung miteinbezogen hat?

Mein Lösungsvorschlag wäre, daß Herder das alles absichtlich gemacht hat, und aus guten Gründen. Herder sieht scheinbar keine Sünde darin, die alten Lieder zu 'polieren' oder aufzufrischen, weil sie möglicherweise auch schon degeneriert oder korrupt geworden sind. Auch seine Vorgänger in England, wie Percy und die anderen englischen Sammler, hatten ihre Lieder verfeinert und geschmückt, damit sie dem zeitgenössischen Publikum besser verständlich und zugänglich seien. Dazu kommt auch, daß die neugeschriebenen Lieder den richtigen Ton haben, und ganz natürlich in den Reihen der besten alten Liedern passen. In anderen Worten: "der Improvisationscharakter des Liedes ... ist für Herder der Beweis unmittelbareren Empfindungsausdrucks und damit höherer poetischer Qualität" (G 864). Als Lösung dieser Frage wäre das aber ein Bißchen zu einfach, denn es geht bei Herder tiefer in die Theorie hinein. Wie Gaier es schön ausgedrückt hat: das Wort alt bei Herder "garantiert nicht Texttreue zum Original, sondern verspricht ein bestimmtes fremdes Hörerlebnis," das Herders Kriterien erfüllt (G 859). Das heißt, auch Goethes "Heidenröslein" darf als ein altes Volkslied betrachtet werden, weil es nicht nur stilistisch den alten ursprünglichen Liedern ähnlich ist, aber weil es auch die erzieherische Funktion dieser Lieder erfüllt: es ist ein Gedicht, das seiner eigenen kulturellen und historischen Vergangenheit versteht, und also kann es das Volk zum Bewußtsein dieser Vergangenheit erwecken.


VI. Herders Verstehen und Dialektik

Hans Dietrich Irmscher hat Herders Hermeneutik und Dialektik in einem Aufsatz analysiert, den ich unten angegeben habe. Nach Irmscher lassen sich zwei hermeneutische Methoden bei Herder erkennen, in Bezug auf Volkpoesie. Die erste ist eine textimmanente Methode, die Sachen innerhalb ihrer textuellen Quellen zu verstehen versucht. Die zweite, die bei Herder ausgeprägter ist, ist, daß Herder z.B. die Volkslieder als Aspekte ihrer historischen Umwelt betrachtet. Wenn man diese zwei Methoden zusammen in einer Dialektik spielen sieht, bilden sie eine wichtige Synthese: Herders Hermeneutik versucht also, die Volkpoesie der Vergangenheit als historisches Phänomen aus dem heutigen Kontext zu verstehen. Das heißt also, das Herders ein produktives Verstehen der Vergangenheit ist, mit Anwendung auf die Gegenwart und damit auch auf die Zukunft. Sein Ziel ist es, "das Vergangene als das für die eigene Gegenwart Zukünftige zu interpretieren." (I 53) Daraus erklärt sich z.B. Herders Verständnis der Volkslieder als geschichtliches Vorbild und zukünftige Anregung für die gegenwärtige Dichtung. Nach Herders Ansichten kann man also die Vergangenheit nicht betrachten, ohne diese Anwendung auf die Gegenwart und ihre Zukunft (I 40). Herders Hermeneutik führt ganz natürlich zu einem Erwecken des Gegenwartsbewußtseins, unter Einfluß der Vergangenheit, wie man es bei der Volksdichtung auch erkennt.

Wie kommt man also zu dieser Verständnis der Vergangenheit bei Herder? Man kann nicht nur aus der heutigen Sicht die Sachen anschauen, und erwarten, daß sie einem zugänglich oder verständlich werden. Herders Methode des Verstehens erklärt Irmscher als ein Sich-Hineinversetzen in die Fremde. Um eine Kultur zu verstehen, muß man sich also als Teil dieser Kultur fühlen; man muß mit der ganzen Seele die fremde Kultur in sich aufnehmen. "Um Ossian zu verstehen, muß man 'ein roher Schotte werden, und die Begebenheiten seiner Welt mit seinem Auge sehen und mit seinem warmen Herzen fühlen, und mit seiner starken Einbildungskraft denken.'" (I 28) Eine Voraussetzung dafür ist aber, daß man einen Standpunkt außerhalb der Geschichte hat; man darf die heutige Weltanschauung nicht auf die Vergangenheit anwenden, obwohl diese Weltanschauung schon ein integraler Teil von uns ist. Auf diese Weise kann man sich aber ohne Gefahr in die fremde Kultur hineinversetzten, um danach herauszukommen, mit einer besseren Verständnis der eigenen Welt. Die eigene Kultur ist also auch der Leitfaden, der es verhindert, sich selbst in der fremden Denkart zu verlieren. Herder erkennt, daß der Mensch immer an seiner eigenen Zeit verbunden bleibt; jedoch sieht er ein, daß man immer durch die Vergangenheit bestimmt wird, und also den Versuch machen muß, diese Vergangenheit zu verstehen: man kann diese Verständnis also dann auf die Gegenwart anwenden, und damit die Zukunft zum Teil beeinflussen. Der jetzige Augenblick, den Herder als "anbrechende Zukunft" (I 40) erkennt, wird auch für ihn der Ausgangspunkt des Hineinversetzens in die Vergangenheit.



Quellen:

H: Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Band 3: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 1990.
G: Ulrich Gaier: Kommentar und Nachwort, in: Herder, Werke, Band 3 (wie oben), S. 841-927.
I: Hans Dietrich Irmscher: "Grundzüge der Hermeneutik Herders". In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1971. Hrsg. von J.G. Maltusch. Bückeburg: Grimme, 1973.





Written and © Nancy Thuleen in 1995 for German 948 at the University of Wisconsin-Madison.

If needed, cite using something like the following:
Thuleen, Nancy. "Das Volkslied bei Herder." Website Article. 22 March 1995. <http://www.nthuleen.com/papers/948Volkslieder.html>.