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Die seelische Entfaltung Harry Hallers durch den Einfluß von Hermine, Pablo und vom Humor

Die Entwicklung der Seele Harry Hallers in Hesses Steppenwolf wird von vielen scheinbar äußerlichen Elementen beeinflußt; wie es aber am Ende des Romans klar wird, sind diese Elemente -- z.B. Hermine, Pablo, und der Humor selbst -- eigentlich alle Teile von Hallers Ich, die er immer noch akzeptieren lernen muß. Hallers Aufgabe ist aber nicht nur die Wahrheit dieser Zerteilung des Ichs in männigfältige Stücke zu erfahren, sondern auch die Verbindung aller solchen Teile miteinander anzuerkennen, was ihm endlich also fehlt, als er Hermine ersticht und dadurch nicht zur Unsterblichkeit gelingt.

Die Geschichte des Steppenwolfs hat eine dreifaltige Struktur: eine Rahmenerzählung, eine Binnengeschichte, und auch der Bericht des Traktats innerhalb der Binnengeschichte bilden den ganzen Roman. Am Anfang spricht der unbenannte Erzähler der Rahmengeschichte in dem fingierten »Vorwort des Herausgebers« von seinen ersten Bemerkungen über den Menschen, der sich »der Steppenwolf« bezeichnet. Er erzählt, wie Harry Haller in das Miethaus der Tante angekommen ist, und wie er dann auf ihn den Eindrück eines vereinsamten wilden Tiers macht: Haller ist »ein fremdes, wildes und auch scheues, sogar sehr scheues Wesen aus einer anderen Welt als der meinigen.« Der Erzähler stellt den Lesern dann die Aufzeichnungen Harry Hallers vor -- die Schriften, die ihm von Hallers Aufenthalt hintergelassen sind.

Das Bild Hallers in seinen Aufzeichnungen stellt einen höchst empfindsamen aber zugleich leidenschaftlichen Mann dar, der sich als Steppenwolf betrachtet -- das heißt, er glaubt zwei gegenseitige Naturen in seiner Seele zu spüren. Die eine Natur ist die eines Menschen, sogar eines Bürgers, ordentlich und sentimental; andererseits zeigt er aber zuweilen die Natur eines wilden Tieres, das sich immer einsam und gewaltig herumtrabt. Haller kann sich in der bürgerlichen Gesellschaft unmöglich zurechtfinden: er sehnt sich immer nach der Ordentlichkeit eines sauberen Hauses, wird aber bald spöttisch darüber, und bringt sich also in höchste Verwirrung durch Alkohol und Selbstmordgedanken. So lebt er als Außenseiter innerhalb der Gesellschaft; er liest und schreibt viel, hört die Musik von Mozart und Händel gern; er fühlt sich aber nirgendwo zu Hause, und reist öfters von Stadt zu Stadt.

Als Haller eines Abends durch die Stadt in ziemlich verwirrtem Zustand läuft, sieht er plötzlich eine mysteriöse Reklame für ein »Magisches Theater -- nur für Verrückte«: das Theater läßt sich jedoch nirgendwo finden. Später begegnet Haller dem Plakatträger des Theaters, und dieser gibt ihm dann ein kleines Buch, worin der Tractat vom Steppenwolf geschrieben steht. Der Traktat beschreibt das Problem Hallers genau wie er es erlebt: ein Steppenwolf namens Harry, der innerhalb der Gesellschaft nicht funktionieren kann, wird als Subjekt einer wissentschaftlichen Analyse dargestellt. Hierin wird auch die Lösung zu seinem Problem angeboten: der Steppenwolf muß die strenge Trennung seiner Seele, die er als nur zweiteilig sieht, völlig verwerfen -- er muß also anerkennen, daß es in der Tat unzählig viele Teile seines Ichs gibt. Dieses will Harry aber nicht anerkennen, und er läßt also die Empfehlungen des Traktats ungeachtet beiseite.

Kurz darauf trifft Haller (scheinbar zufällig) ein junges Mädchen, das, wie er später erfährt, Hermine heißt. Hermine dient zuerst als eine Art angenehmer Zeitvertreib für Haller; allmählich aber zeigt sie es ihm, daß sie selbst ähnlichen Problemen in der Gesellschaft begegnet ist. Sie ist tatsächlich in derselbe Lage als Haller, jedoch ist sie zufrieden, da sie den Weg in die Unsterblichkeit durch Humor gefunden habe. Es taucht aber eine dunklere Seite Hermines auf, indem sie Haller sagt, daß er sie eines Tages töten wird, und zwar auf ihren Befehl. Jedoch bringt sie Haller dann das Tanzen sowie auch neue Arte der Liebe bei, und es geht ihm in ihrer Gesellschaft besser. Auch ihr Freund, der Musikant und Saxophonspieler Pablo, sei zum Unsterblichen geworden: er habe die Vielfältigkeit seiner Seele erkannt, und ist dabei glücklich und voll Humor.

Haller versteht diese neue Ereignisse doch nicht ganz; er glaubt, daß es ihm nicht möglich wäre, wirklich glücklich in diesem Leben zu werden. Trotzdem geht er eines Abends zu einem Maskenball, wo er Hermine erkannt, die als sein jugendlicher Freund Hermann gekleidet ist. Danach gehen sie zusammen ins »Magische Theater«. Dort, nach vielen Abenteuern, die seiner seelischen Entfaltung hilfreich sein sollen, führt Haller ein Gespräch mit Mozart: dieser versucht, ihm seine Lage zu erklären; da Haller es aber nicht begreifen kann, lacht Mozart, und Haller findet sich plötzlich in einem Zimmer, wo Pablo und Hermine nackt zusammenliegen. Haller kann diesen Anblick einfach nicht ertragen, und, da er glaubt, daß Hermine es ihm früher befohlen habe, ersticht er sie. Pablo, der Mozart auch gleicht, erklärt ihm dann, daß er auf der falschen Spur sei, und müßte dafür bestraft werden. Haller bleibt also am Ende im Theater, um seinen Weg in die Unsterblichkeit zu finden; er hofft, sein Ziel erreichen zu können: »einmal würde ich das Lachen lernen.«

Das Problem Hallers läßt sich aber nicht so leicht erklären. Er ist ein Mensch, der die Schwierigkeiten seiner menschlichen Existenz erkennt -- als solches ist er schon dem Erzähler und den anderen Bürgern im voraus. Er kann aber die Lösung seiner Lage nicht vollbringen, da er keinen Humor hat. Nach Hesse ist also der Humor nicht nur ein Zeichen eines ausgeglichenen Menschens, sondern auch das Mittel für den Menschen, der einer der »Unsterblichen« werden will. Wie es im Traktat heißt: »einzig der Humor (vielleicht die eigenste und genialste Leistung des Menschentums) vollbringt dies Unmögliche, überzieht und vereinigt alle Bezirke des Menschenwesens mit den Strahlungen seiner Prismen.«

Durch den Humor könnte sich Haller zurechtfinden; er könnte dann die Vielfältigkeit seines Ichs nicht nur erkennen, sondern auch ertragen. Das ist also seine eigene Aufgabe im »Magischen Theater«: er muß nicht nur das Lachen lernen, sondern auch lernen, sich selbst zu akzeptieren, oder, wie es von Nietzsche ausgedrückt wurde, er muß eine neue Moral erschaffen.

Hesse wurde von den Ideen Nietzsches und Jungs stark beeinflußt sowie auch von den indianischen Philosophien, die die Wichtigkeit der persönlichen Anerkennung betonen. Wie es hier erklärt wird, entwickelte Hesse eine Auslegung der seelischen Entwicklung des Menschen durch den Humor:

 In several essays that he wrote around 1920 -- most notably in pieces on Nietzsche and Dostoevsky -- Hesse argued that men must seek a new morality that, transcending the conventional dichotomy of good and evil, will embrace all extremes of life in one unified vision. A later essay, "A Bit of Theology" (1932), outlines the three-stage progression toward this goal. The child, he says, is born into a state of unity with all being. It is only when the child is taught about good and evil that he advances to a second level of individuation characterized by despair and alienation; for he has been made aware of laws and moral codes, but feels incapable of adhering to the arbitrary standards established by conventional religious or moral systems since they exclude so much of what seems perfectly natural. A few men -- like the hero of Siddhartha or those whom Hesse calls "the Immortals" in Steppenwolf -- manage to attain a third level of awareness where they are once again capable of accepting all being. But most men are condemned to live on the second level, sustained only by a sense of humor through which they neutralize oppressive reality and by an act of the imagination through which they share from time to time in the kingdom of the Immortals, the realm of the spirit. [1]


Haller ist also nach dieser Schema noch nicht einer der Unsterblichen; er ist aber auf dem Weg dazu, und er läßt es am Ende vermuten, daß er sein Ziel erreichen wird. Was aber wichtig ist, ist wie Haller auf die Förderungen seines Entwicklungslaufs reagiert: er widerstrebt fast immer das Selbsterkennen, und will es einfach nicht akzeptieren, daß die zweiseitige Trennung seines Ichs vielleicht nicht so streng bestimmt ist. Der Spiegel, den Pablo ihm im »Magischen Theater« vorhält, zeigt Haller endlich definitiv die Vielfältigkeit seines Ichs; allmählich kommt er dann zum Bekenntnis, daß er den ihm gezeigten Weg doch für richtig halten muß.

Das Erkennen der Vielfältigkeit Hallers Ichs entspricht also seine Anerkennung des Allwesens in der hesseschen Schema. Haller muß es am Ende bekennen, daß sein Ich nicht nur zwei Teile hat, sondern unzählig viele, wie es ihm durch das Figurenspiel klargemacht wird. Diese Figuren, die sich immer wieder zu neuen Mustern umformen, sind die verschiedene Möglichkeiten seiner Persönlichkeit, seines Wesens, seines Ichs. Es kommt dann als keine große Überraschung, daß verschiedene Figuren Hallers Ichs nicht nur männlich, sondern auch weiblich sind. Nach dem Psychologe Carl Jung, von dem Hesse auch viel übernommen hat -- Hesse war auch kurze Zeit unter psychologischer Behandlung eines Schülers von Jung -- hat jedes Menschens Ich eine weibliche Seele (anima) und eine männliche (animus). Zusammen spielen sie voneinander ab, und funktionieren dann zusammen auf ähnlicher Weise wie die freudische Libido.

Man kann also behaupten, daß Hermine hier die Rolle des weiblichen Teils von Haller spielt. Als Haller sie zuerst kennenlernt, betrachtet er sie nur als ein zwar hübsches aber fremdes und bürgerliches Mädchen. Als sie ihm danach ihre Probleme in der Gesellschaft erklärt, beginnt er, sie als Leidensgenossin anzusehen: »ein Teil meiner Seele sog ihre Worte auf und glaubte ihnen, ein anderer Teil meiner Seele nickte begütigend und nahm zur Kenntnis, daß also doch auch diese so kluge, gesunde, und sichere Hermine ihre Phantasien und Dämmerzustände habe.«

Haller kann Hermine aber als Teil seines Ichs noch nicht betrachten -- sie ist immer noch ein Teil der Gesellschaft, von der er sich zurückgestoßen fühlt. Als Haller sich aber allmählich der Selbsterkennung annähert, kommt Hermine ihm immer öfter als »knabenhaft« oder »hermaphroditisch« vor. Im Ball gegen Ende, wo es dann zu vermuten ist, daß sie sich ihm hingeben wird, erscheint sie in Verkleidung als Hermann, der jugendliche Freund Hallers. Sie ist also zum Teil seines Ichs geworden, und er darf ins »Magische Theater« mit ihr gehen.

Was aber da passiert, macht es dann klar, daß Haller noch nicht bereit ist, das Allwesen zu akzeptieren. Er kann zwar Hermine (als auch die anderen Mädchen, denen er dort begegnet) als Teile seines Ichs betrachten; was ihm aber immer noch fehlt, ist auch Pablo als ein Teil dieses Allwesens zu akzeptieren. Als Haller dann sein Ich (Hermine) in glücklicher Verbindung mit seinem Nicht-Ich (Pablo) sieht, kann er es nicht ertragen, und zerstört das Teil seines Ichs, das diesen Verrat an ihm geübt hat.

Hätte Haller diese Verbindung zwischen den Beiden (Ich und Allwesen) akzeptieren können, wäre er dann zum Unsterblichen geworden: er hätte dann eine neue Moral erschaffen, die die Verbindung zwischen Ich und Nicht-Ich erlaubt hätte. Er hat es aber nicht gekonnt, und ist deswegen wieder ins Bürgertum gefallen. Er muß für die Zerstörung des Teils seines Ichs noch gestraft werden, aber es ist eine gutgemeinte Strafe, die Pablo-Mozart vorschlägt: »Sie sollen leben, und Sie sollen das Lachen lernen.« Durch den Humor soll er dann lernen, die neue Moral anzunehmen, und die vielfältige Teile seines Ichs als das Allwesen anzuerkennen.



Zitate:

(1)  Ziolkowsli, Theodore. "Forward" in Magister Ludi: The Glass Bead Game (Hermann Hesse, trans. Richard and Clara Winston). New York: Bantam Books, 1969, p. xi. [return to text]





Written and © Nancy Thuleen in 1993 for German 154 at Pomona College.

If needed, cite using something like the following:
Thuleen, Nancy. "Die seelische Entfaltung Harry Hallers durch den Einfluß von Hermine, Pablo und vom Humor." Website Article. 12 March 1993. <http://www.nthuleen.com/papers/154paper.html>.