Lessings Komödie Minna von Barnhelm besteht aus vielen erzählerischen Elementen, die zusammen einen Konflikt zwischen der gesellschaftlichen Anerkennung und der innerlichen Auffassung der Ehre bilden. Die Grundlagen dieses Konflikts sind zwar ziemlich einfach, aber sie bewirken beinahe die ganze Handlungsproblematik im Stück, ohne daß der Leser am Anfang überhaupt weiß, was hier die Einzelheiten derselben sind. Jedoch bekommt der Leser schließlich eine Auslegung der wahren Geschichte Tellheims, was also sein bis dahin fast unverständliches Handeln einigermaßen erklärt. Wie es Madame de Stael in ihrem Buch Über Deutschland ausgedrückt hat, ist »das ganze Thema in Minna von Barnhelm« wie folgt:
| Ein Offizier vom edlen Charakter sieht sich, nachdem er mehrere Wunden im Heeresdienst empfangen hat, plötzlich durch einen ungerechten Prozeß in seiner Ehre bedroht; dabei will er der Frau, die er liebt und von der er geliebt wird, seine Liebe nicht wissen lassen, da er entschlossen ist, sie nicht durch eine Heirat in sein Unglück zu verwickeln. [1] |
In der Tat ist der Konflikt nicht viel komplizierter. Der Major von Tellheim mußte während seines Aufenthalts bei der Familie von Barnhelm im siebenjährigen Krieg die Kontributionsgelder von den sächsischen Ständen einsammeln. Da die Stände aber schon nicht mehr ausreichend Geld hatten, hat Tellheim sich aus Mitleid kurz entschlossen, selbst das fehlende Geld vorzuschiessen. Die Stände gaben ihm dafür ihren Wechsel, was dann von dem Finanzausschuß der Regierung für gültig erklärt wurde. Doch gerät Tellheim danach in Schwierigkeiten, weil es ihm vorgeworfen wird, er sei von den Ständen bestochen worden, damit sie sich über eine niedrigere Summe einigen konnten. Weil der Major einen sehr ausgeprägten Ehrbegriff hat, sieht er in diesem Vorwurf eine Kränkung seiner gesellschaftlichen und persönlichen Ehre. Als dann seine Verlobte Minna in der Stadt auftaucht, erinnert sie ihn an seine Versprechung, und fragt, ob er sie noch liebt. Selbstverständlich liebt er Minna noch, doch seines Ehrbegriffs wegen darf Tellheim sie nicht heiraten: ihre Ehre wäre durch eine Heirat mit ihm auch beschädigt, und aus Liebe und Rechtschaffenheit kann Tellheim ihr solches nicht antun.
Am Anfang des Dramas weiß aber das Publikum nur wenig über diese Verwicklungen: die völlige Entlarvung der Intrigen kommt erst in dem vierten Aufzug, schon lange nachdem Tellheims Charakter und einige seiner Charakterzüge dargestellt werden. Was also in den ersten drei Akten passiert, dient dazu, den Ehrbegriff Tellheims dem Publikum ausführlich zu zeigen. Sein Benehmen mit der Witwe Marloff, seine Selbstbeherrschung in der Sache mit dem Wirt, und vor allem sein Umgang mit seinem Diener Just beweisen, daß Tellheim nicht nur von anderen Figuren als ehrlicher, aufrechter Mensch beschrieben wird; er ist in Wirklichkeit ein mitleidsvoller und geradezu liebenswürdigen Mann, der irgendwie in einer ungerechten Sache verwickelt wurde. Was gerade diese Sache ist, erfährt der Leser in Stücken, die allmählich die Wahrheit enthüllen: Tellheim kann sein Zimmer im Wirtshaus nicht mehr bezahlen, offenbar hat er also kein Geld mehr. Er sollte noch vom König Geld bekommen, jedoch ist da ein Haken, denn der König hat Tellheim entlassen und zahlt ihm gar nicht das, was er ihm vorher schuldig war. Also ist der öffentliche Ruf Tellheims angegriffen; die Einzelheiten erfährt man erst dann, als Riccaut sie der Franziska offenbart. In dem Augenblick versteht der Leser dann endlich, was eigentlich im Drama das Problem ist, und beginnt, an mögliche Lösungsvarianten zu denken.
Was sich aber schließlich als Lösung des Konflikts ergibt, hätte der Leser wohl nicht voraussagen können. Da die Minna sich als eine ebenso tiefe, realistische Figur wie Tellheim herausstellt, führt sie selber eine Entwicklung der Handlung ein, und bringt Tellheim die Kenntnisse, die er braucht, um den Konflikt als gelöst betrachten zu können. Minna, die als »erste moderne Frau in der deutschen Literatur« bezeichnet werden darf, [2] ist durchaus alleine dafür verantwortlich, daß Tellheim seine Lage zu verstehen beginnt: sie zeigt ihm, anhand allerlei Intrigen und Spiele, daß die beiden eigentlich als Ehepaar zusammengehören, ganz egal wie die Sache mit der angefochtenen Ehre ausgeht. Die Ringintrige stellt also nur einen ihrer Versuche dar, Tellheim von seinem verkehrten Standpunkt zu bewegen und ihn zu überreden, sich ihrer doch anzunehmen. Auch die Predigten und die moralischen Reden, womit Minna ihn anspricht, verstärken ihre erzieherischen Anstrengungen. Die Minna ist also genauso handlungsfähig wie der Tellheim, und vielleicht sogar noch mehr, was sie von ihren Vorgängerinnen in der deutschen Komödie stark unterscheidet.
Doch ergibt sich das, was sie am Ende leistet, als nur ein kleiner moralischer Sieg. Tellheim, in starkem Kontrast zu den typischen dramatischen Helden, muß sich gar nicht verändern, um dem dramatischen Konflikt eine glückliche Lösung zuzuführen. Tellheim hat doch gar kein tragisches Laster; deshalb kann sein Ehrbegriff unverändert erhaltenbleiben, weil dieser Begriff in bezug auf seinen Charakter völlig richtig ist. Aus diesen Gründen versucht Minna eigentlich nie, Tellheim von seiner Vorstellung der Ehre abzubringen; im Gegenteil beweist sie mehrfach durch die vielen Intrigen, daß Tellheim auf alle Fälle Recht hat, obwohl die Welt es ihm schwierig macht, seinen Ehrbegriff aufrechtzuerhalten. Minna bemüht sich nun schon, Tellheims Standpunkt der Liebe gegenüber zu ändern, damit er erkennt, wie die beiden auch in der gegebenen Lage sich lieben können. Insoweit wäre dann eine tragische oder eine unglückliche Lösung des Konflikts hier völlig undenkbar: wenn das Drama unglücklich enden würde, wäre die Aussage über Tellheims Ehre ganz negativ zu betrachten; das heißt, wenn sein Ehrbegriff ihn zu einem tragischen Ende führen würde, müßte man diesen Begriff für unrichtig, sogar falsch begründet, erklären. Daß er aber seinen Ehrbegriff aufrechterhält und noch am Ende eine glückliche Lösung findet, spricht dafür, daß sein ausgeprägten Ehrbegriff doch der Richtige ist.
Anstatt seinen Ehrbegriff abzulegen muß Tellheim sich also nur auf die gleiche Ebene wie Minna stellen, um den Konflikt über die Ehre zu lösen. Das ist es also, was er durch Minnas Lehre einsieht, und was er aus der ganzen Affäre zu Herzen nimmt. Die Ehre ist zwar für seine Rolle in der Gesellschaft wichtig, und sie muß auch erhalten werden. Für die wahre Liebe kommt aber die Ehre nicht in Frage; es wird angenommen, daß das liebende Paar ehrenvolle Menschen sind, was im Falle Tellheims durch den ersten Teil des Dramas definitiv erwiesen wird. Für die Liebe bleibt dann die Gleichheit das Wichtigste: wie man im Stück lernt, müssen Tellheim und Minna auf der gleichen Niveau stehen, bevor es ihnen möglich ist, die Liebe zu vollziehen und die Ehe einzugehen. Als die Minna dann z.B. die erdichtete Geschichte ihrer Enterbung erzählt, darf Tellheim sich plötzlich wieder erlauben, die Minna zu lieben, und sie sogar selber aus ihrer Elend zu retten. Das alles darf er nur, weil die beiden nun gleichgestellt sind, das heißt, sie werden sowohl für die Liebe wie auch durch die Liebe gleich, damit sie sich lieben können.
Es ist aber nicht nur durch Minna, daß die glückliche Lösung eingeführt wird. Was die Minna bewirkt, ist einen Wandel in dem Selbstverständnis Tellheims, wie er sich mit Minna umzugehen hat. Sie löst also den inneren Teil des Konflikts, was Tellheims Vorstellung der Liebe und Gleichheit angeht. Da der dramatischen Konflikt aber auch eine äußere Seite, eine gesellschaftliche Problematik hat, treten auch andere Figuren ins Spiel ein. Eine ziemlich kleine Rolle spielt hier das Kammermädchen Franziska, die Minna davon warnt, ihre Spiele zu weit zu treiben, aus Furcht, daß die ganze Sache ein unglückliches Ende nehmen könnte. Franziskas Bemerkungen steigern also die Spannung des Dramas, dergestalt, daß sie die Angst des Publikums verstärken, und führen dazu, daß die komische Lösung am Ende eine noch willkommenere Überraschung ist. Auch andere Nebenfiguren, z.B. der Just oder der Werner, haben eine Wirkung auf den Ausgang des Dramas: vor allem betonen sie zugleich die Möglichkeit als auch die Wichtigkeit der Gleichheit. Dadurch, daß die Nebenfiguren, die fast alle Mitglieder der niedrigeren Stände sind, in ihren Charakterzügen sich nicht von den Adligen unterscheiden lassen -- Franziska ist z.B. wenigstens so ein ehrlicher Mensch wie Minna, und auch genauso liebenswürdig -- merkt man, daß es im Drama so gut wie keine Standesunterschiede gibt. Gesellschaftliche Aufteilungen gibt es schon, aber die beeinflüssen den moralischen Charakter der Menschen nicht. Weil alle Figuren also gleichgestellt werden, passen dann auch Minna und Tellheim in dieses Bild der Gleichheit und der Liebe ein.
Der Einzige, der sich aber von allen anderen Figuren im Drama sich unterscheidet, ist gerade der, der wohl die wichtigste Rolle für den Ausgang des Konflikts spielt: der König selbst. Da er niemals im Drama zu Gesicht kommt, kann man sagen, daß er hier die Ausnahme ist, daß er in der Tat nicht mit den anderen Personen gleich eingestuft werden darf. Er ist die extremste Nebenfigur im Sinne der auf der Bühne vorgetragenen Handlung, jedoch hat er den stärksten Einfluß auf das komische Ende, weil er die äußere, gesellschaftliche Seite des Konflikts durch seinen Brief löst. Er liegt die letzte Hand an die Frage der Ehre Tellheims, und fügt also die endgültige glückliche Lösung des ganzen Problems hinzu. Tellheim ist nicht nur in seiner Ehre wieder bestätigt worden, sondern er hat auch wieder seine Stelle, sein Geld, und vor allem seine Frau.
Daß der König hier die Rolle des aufgeklärten Despots spielt, ist sicherlich klar. Er weiß ja genau das Richtige für seine Untertanen, und leitet für sie die »beste aller möglichen Welten« ein. Insofern darf man die zwar unwahrscheinliche Lösung Lessings nicht als eine Verlegenheitslösung betrachten, sondern als eine tiefgründige Aussage über die zeitgenössische Gesellschaft und Philosophie. Die Ideen von Leibniz und Voltaire kommen hier deutlich zum Vorschein, mit dem König als Vertreter Gottes auf Erde, der die Handlung im Stück und im Leben seiner Untertanen mit ihrem glücklichen Ende versorgt. Der komische Ausgang des Stückes beweist also hier, daß die Weltanschauung Lessings in diesem Falle keine zerstörende Elemente in sich verbirgt, daß er also die Welt schon einigermaßen akzeptiert, wie sie ist. Die Liebe setzt für ihn die Gleichheit voraus, die Ehre wird dann mitgezogen, und alles nimmt sein glückliches Ende. Minna von Barnhelm ist also eine Komödie, aber eine ernste Komödie, die sich mit der ganzen Problematik des menschlichen Daseins beschäftigt; doch zeigt sich die »lachende Vernunft des Spiels« [3] am Ende als der Sieger.
Zitate:
(1) | zitiert nach dem Anhang »Zur Entstehung und Wirkung von Lessings Minna von Barnhelm«. In: Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm. Stuttgart (Philipp Reclam jun.), 1990, S. 109. [return to text] |
(2) | Hildebrandt, Dieter: »Minna von Barnhelm. Das klassische Lustspiel - ein Zeitstück.« In: Dieter Hildebrandt, Hrsg.: Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm. Frankfurt am Main, Berlin (Ullstein), 1969, S. 28. [return to text] |
(3) | Hass, Hans, Egon: »Lessings Minna von Barnhelm.« In: Hans Steffen, Hrsg.: Das deutsche Lustspiel. Bd. 1. Göttingen, 1968, S. 27. [return to text] |
Written and © Nancy Thuleen in 1994 for German 940 at the University of Wisconsin-Madison.
If needed, cite using something like the following: Thuleen, Nancy. "Konflikt und komische Lösung in Minna von Barnhelm." Website Article. 20 September 1994. <http://www.nthuleen.com/papers/940paper1.html>.
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