Die Italienische Reise, das große Tagebuch Goethes von seiner Reise durch den Süden, gilt nicht nur als eine persönliche Erzählung seines damaligen Lebens, sondern auch als ein großes literarisches Werk der genauen Beobachtung und Beschreibung. Goethes Fähigkeit, seine Wahrnehmungen und Erfahrungen durch die Sprache auszudrücken, wird in diesem Werk zu dem wichtigsten Ziel seiner Kunst. Doch beschränkt Goethe seinen Stil nicht; er versucht dauernd durch das Buch, seine Erfahrungen nicht nur zu erzählen, sondern, im wahren literarischen Sinne, sich mit Metaphern und Anspielungen aus der wissenschaftlichen Beobachtung hinauszudrängen und zu zeigen, wie seine Reise ihm imponierte und wie sie ihn änderte.
Die Entstehung dieses großen Werkes geht bis in Goethes Kindheit zurück. 1740 machte der Vater Goethes eine Reise durch Südeuropa, von der er viele Erinnerungsstücke und Antiquitäten zurückbrachte. Diese wurden für Goethe die Einrichtungen seiner Kindheit. Der Vater schwärmte natürlich von seiner Reise, was auch ein großer Einfluß auf den jungen Goethe war. Schon mit neun Jahren war Goethe der italienischen Sprache fähig, und später, unter dem Einfluß von Herder, las er Platon und Homer. Nach langem Nachdenken beschloß er sich dann, eines Tages eine Reise wie die seines Vaters zu unternehmen. Dann, am 3. September 1786 stahl er sich aus der Karlsbader Gesellschaft fort, und begann mit seiner Reise. Diese machte er nicht als der Weimarischer Minister, dessen Stelle er damals besaß, sondern inkognito als "Filippo Miller, Tedesco, Pittore." Seine Reise, die bis ihrem Ende fünfzehn Monate dauerte, ging am Anfang ziemlich schnell. Von seinem Abfahrt von Karlsbad am 3. September, sehen wir ihn zunächst auf dem Brenner am 8. September. Von da geht er über Trient (10.9.) nach Verona, wo er am 16.9. ankommt. Am 19. September ist er in Vicenza. Hier beginnt das Tempo sich zu verlangsamen; er verbringt einige Tage dann, und erst am 26. September kommt er in Padua an, dann zwei Tage später in Venedig. Hier bleibt er ziemlich lange: beschäftigt mit seinem Schreiben sowohl wie mit seiner Besichtigung der Gebäude der antiken Baukunst, dauert es bis 16. Oktober, bis er in Ferarra erscheint. Von da über Bologna (18.10.) gelingt er endlich in Rom am 29. Oktober. Hier bleibt er bis Februar, wenn er sich entschließt, weiter nach Süden zu reisen. {Für viele Auskunft in diesem Abschnitt bedanke ich mich bei Herrn Professor Glück und seinem Seminar über die Italienische Reise.}
Die Briefe, aus denen die Buchausgabe des Werkes besteht, waren hauptsächlich an Charlotte von Stein geschrieben. In den späteren Teilen des Buches fügt Goethe dann einige Prosastücke sowie auch Briefe an andere Freunde hinzu. In diesen Briefen zeigt er sich nicht nur als der reisende Deutsche, der die Geheimnisse Italiens erfahren will, sondern auch als der Mensch, der seinen eigenen Horizont erweitern will. Als Jüngling schon schrieb er: "ich habe die Kenntnisse noch nicht, die ich brauche, es fehlt mir noch viel. Paris soll meine Schule seyn, Rom meine Universität." (Nachwort zu der Hamburger Ausgabe, S. 560) In diesem Sinne paßt er gerade zu der damaligen Zeitgeist; viele Europäer, vor allem Deutsche und Engländer, hatten am Anfang des 18. Jahrhunderts Reisen nach Italien und Griechenland unternommen, um die Werke der Antike zu erfahren, und hatten dann Bücher veröffentlicht, die den Strom dieser Reisenden nur vermehrten. So, zum Beispiel, hatte Winckelmann, der als Begründer der Geschichts- und Kunstwissenschaft in Deutschland gilt, seine Reise nach den klassischen Ländern gemacht, und hat dann zum erstenmal den Deutschen eine Ahnung gegeben, was für ein Bild die Antike haben soll: er prägte die Beschreibung der griechischen Kunstwerken als durch "stille Einfalt und edle Größe" zur Würde gebracht. Goethe hat die Werke Winckelmanns auch gelesen, und zwar bespricht er es dann, wie seine Erfahrungen von Winckelmanns Ideen geformt wurden:
| Durch Winckelmann sind wir dringend aufgeregt, die Epochen zu sondern, den verschiedenen Stil zu erkennen, dessen sich die Völker bedienten, den sie in Folge der Zeiten nach und nach ausgebildet und zuletzt wiederverbildet. Hievon überzeugte sich jeder wahre Kunstfreund. Anerkennen tun wir alle die Richtigkeit und das Gewicht der Forderung. (28.1.1787) |
Nicht nur aber machte Goethe seine Betrachtungen, um eine bessere Verständnis für die Antike zu entwickeln, sondern auch wollte er seinen eigenen Geist verbessern. Er fühlte sich scheinbar der deutschen Gesellschaft zu der Zeit seiner Abfahrt müde; wie er in manchen Stellen darauf hinweist, ist ihm Italien viel lieber als sein Vaterland. Sogar die Sprache, schreibt er, bringt ihn in eine bessere Laune:
| Nun hatte ich zum erstenmal einen stockwelschen Postillon; der Wirt spricht kein Deutsch, und ich muß nun meine Sprachkünste versuchen. Wie froh bin ich, daß nunmehr die geliebte Sprache lebendig, die Sprache des Gebrauchs wird! (11.9.1786) |
Auch zeigt Goethe seine Gefühle auf eine Weise, die uns vielleicht überraschend ist: besonders nach dem ersten Jahr, als er vom Süden nach Rom zurückkehrt, fängt er an, Äußerungen seiner Einsamkeit zu zeigen, was in den Briefen an Charlotte von Stein ganz sichtbar wird; leider hat Goethe viele von diesen Briefen in die Buchausgabe nicht einbezogen. Als das Nachwort zu der Hamburger Ausgabe von Herbert von Einem andeutet, wird Goethes Einsamkeit oft von dem Kampf um seinen dichterischen Geist, den er strebsam auf seiner Reise zu erweitern sucht, unterdrückt:
| Auch das Verhältnis zu Charlotte v. Stein, so viel Seligkeit es gab, war von diesem Konflikt tief überschattet. In der Buchveröffentlichung der Italienischen Reise steht davon nichts. Aber in den Originalbriefen an die Geliebte aus Italien strömen Liebesbeteuerung, Werbung und Klage in bewegenden Worten und geben der Bemühung um das Gültige, Wahre, Gesetzmäßige, Klassische, das seine italienischen Tage fühlte, den dunkel leidvollen Klang persönlichster Lebensnot. Charlotte war ihm Führerin auf seinem Wege von der Freiheit zur Bindung gewesen. Ihr Bund war auf innerster Übereinstimmung gegründet. (Nachwort zu der Hamburger Ausgabe, S. 562.) |
Die Hauptsache für Goethe auf seiner Reise scheint denn zu sein, daß seine Beobachtungen und Erfahrungen nicht nur gemacht werden sollen, sondern daß sie auch zu etwas führen sollen. Weil er der nördlichen Gesellschaft müde war, beabsichtigte er diese Reise als ein Versuch, seine Gefühle und Denkarten zu erneuern. Doch schreibt er, als er in Rom ankommt, daß er jetzt weiß, daß es ihm endlich gelingen wird, die echt wichtigen Sachen in seinem Leben zu schätzen, und daß dieses eine unmittelbare Folge seiner Reise sein wird. Er konnte vorher an nichts anderes als Italien denken, schreibt er:
| Ja, die letzten Jahre wurde es eine Art von Krankheit, von der mich nur der Anblick und die Gegenwart heilen konnte. Jetzt darf ich es gestehen; zuletzt durft' ich kein lateinisch Buch mehr ansehen, keine Zeichnung einer italienischen Gegend. Die Begierde, dieses Land zu sehen, war überreif: da sie befriedigt ist, werden mir Freunde und Vaterland erst wieder recht aus dem Grunde lieb und die Rückkehr wünschenswert, ja um desto wünschenswerter, da ich mit Sicherheit empfinde, daß ich so viele Schätze nicht zu eigenem Besitz und Privatgebrauch mitbringe, sondern daß sie mir und andern durchs ganze Leben zur Leitung und Fördernis dienen sollen. (1.11.1786) |
Das Ziel seiner Beobachtungen war dann, seinen Geist zu erneuern und verbessern, und seine "joie de vivre" wieder zu finden. Das hat er vom Anfang an erkannt, und es ist ihm fast vom Anfang an gelungen, sich selbst zu finden: "Mir ist jetzt nur um die sinnlichen Eindrücke zu tun, die kein Buch, kein Bild gibt. Die Sache ist, daß ich wieder Interesse an der Welt nehme," schrieb er am 11.9.1786.
Was Goethe aber nicht so eindeutig sagt, das aber ganz klar durch seine Beschreibungen vorkommt, ist, daß seine Erfahrungen, obwohl sie mit allen möglichen Sachen zu tun haben, alle irgendwie mit den Menschen und mit dem Volk zusammenhängen. Er interessiert sich vor allem an Menschen, die ihm etwas zu sagen oder zu zeigen haben. Entweder die physischen Merkmale der Menschenkörper, die er oft mit naturwissenschaftlichen Bemerkungen zu erklären versucht, oder das Verhalten und die Denkarten des Volkes, die häufig mit der Architektur oder Kunst der Antike verglichen werden, sind für Goethe der Kern seiner Erfassung Italiens. Zwar wird er dieses manchmal gewahr; er schreibt, zum Beispiel, als er an seine eigenen Betrachtungsweisen denkt: "Das Interesse an der menschlichen Gestalt hebt nun alles andre auf ... auch ist alles vergebens, was man außer Rom darüber studieren will." (10.1.1787)
Dieses Interesse an der menschlichen Gestalt führt dazu, daß Goethe immer das beschreibt, was mit den Menschen irgendwie zusammenhängt. Obwohl es Stellen in dem Buch gibt, wo die rein natürlichen oder künstlichen Beobachtungen durchscheinen, ist es immer wahr, daß an den wichtigsten Stellen, wo eine Beschreibung über sich selbst hinausreicht und ins Literarische erlangt, ist es durch die Verkettung seiner Wahrnehmung mit dem Vergleich oder der Verbindung zu dem menschlichen Dasein. Es ist so, zum Beispiel, in den Beschreibungen der Kunst der Antike, die fast immer als ein untrennbares Teil des Volkes dargestellt wird, und auch in den Städtebildern, wo das Volk immer die wichtigste Rolle spielt. Auch in den naturwissenschaftlichen Beobachtungen, das heißt in den Wahrnehmungen über Botanik, Meteorologie, oder Geologie, die er während seiner Reise macht, sehen wir immer den Einfluß der Menschen, und, umgekehrt, wie die natürliche Welt sie beeinflußt. An diesen Stellen dann steigt das Tagebuch Goethes aus dem Reich der allgemeinen Beschreibung, und wird nicht mehr ein einfacher Reiseführer oder Lehrbuch über Italien, sondern ein literarisches Werk voll mit Metaphern, Symbolik, und Bedeutung.
Das beste Beispiel dieser Technik Goethes, die seine Beschreibung fast lebendig macht, sehen wir in seiner Beschreibung der Baukunst der Antike, und zwar in dem Bild des Amphitheaters zu Verona. Hier füllt Goethe dieses leere Theater mit dem Volk, dem es gehört, um einen Maßstab zu haben, nach dem er die Größe des Theaters schätzen kann. Die Stelle läßt sich wahrscheinlich am besten von selbst verstehen:
| Das Amphitheater ist also das erste bedeutende Monument der alten Zeit, das ich sehe, und so gut erhalten! Als ich hineintrat, mehr noch aber, als ich oben auf dem Rande umherging, schien es mir seltsam, etwas Großes und doch eigentlich nichts zu sehen. Auch will es leer nicht gesehen sein, sondern ganz voll mit Menschen ... doch nur in der frühesten Zeit tat es seine ganze Wirkung, da das Volk noch mehr Volk war, als es jetzt ist. Denn eigentlich ist so ein Amphitheater recht gemacht, dem Volk mit sich selbst zu imponieren, das Volk mit sich selbst zum besten zu haben.
Wenn irgendwas Schauwürdiges auf flacher Erde vorgeht und alles zuläuft, suchen die Hintersten auf alle mögliche Weise sich über die Vordersten zu erheben: man tritt auf Bänke, rollt Fässer herbei, fährt mit Wagen heran, legt Bretter hinüber und herüber, besetzt einen benachbarten Hügel, und es bildet sich in der Geschwindigkeit ein Krater.
Kommt das Schauspiel aber öfter auf derselben Stelle vor, so baut man leichte Gerüste für die, so bezahlen können, und die übrige Masse behilft sich, wie sie mag. Dieses allgemeine Bedürfnis zu befriedigen, ist hier die Aufgabe des Architekten. Er bereitet einen solchen Krater durch Kunst, so einfach als nur möglich, damit dessen Zierat das Volk selbst werde. Wenn es sich so beisammen sah, mußte es über sich selbst erstaunen; denn sonst ist es nur gewohnt, sich durcheinander laufen zu sehen, sich in einem Gewühle ohne Ordnung und sonderliche Zucht zu finden, so sieht das vielköpfige, vielsinnige, schwankende, hin und her irrende Tier sich zu einem edlen Körper vereinigt, zu einer Einheit bestimmt, in eine Masse verbunden und befestigt, als eine Gestalt, von einem Geiste belebt. Die Simplizität des Oval ist jedem Auge auf die angenehmste Weise fühlbar, und jeder Kopf dient zum Maße, wie ungeheuer das Ganze sei. Jetzt, wenn man es leer sieht, hat man keinen Maßstab, man weiß nicht, ob es groß oder klein ist. (16.9.1786) |
Hier füllt Goethe das Theater mit Leuten, um ein lebendigeres Bild zu bekommen, aber auch um einen Maßstab für die mathematische Abschätzung des Ganzen zu haben. Er kann es nicht verstehen, meint er, nicht richtig im Kopf haben, wenn er es nicht voll mit Leuten sich vorstellt. Jedoch ist es nicht nur das Theater, das Goethe sieht, sondern das Theater in Zusammenhang mit seiner Vergangenheit, seinem Volk, und seinem Zweck: das Theater gibt dem Volk einen Grund, einen Leiter, und ein Selbstbewußtsein, so daß das Volk als solches richtig funktionieren kann. Goethe sieht das ein, in seinem ersten Blick an das Theater. In der Tat sieht er sogar mehr: er sieht ein, wie das Volk auf das Theater reagiert, und wie es ohne das Theater sich fast sinnlos verhält. Er mag wohl ein bißchen zynisch hier sein, dem italienischen Volk gegenüber, wenn er das Volk zu einem "vielsinnigen, schwankenden" Tier vergleicht, als ob er schimpfend die Italiener als lächerlich aber zum Teil auch gefährlich beschreiben wollte.
Doch ist das Volk, besonders als es früher existierte, ihm heilig; Goethe scheint sogar behaupten zu wollen, daß das italienische Volk mehr Volk als das deutsche ist, und sicherlich, daß das antike Volk mehr als das jetzige ist. Es ist nicht das Theater, das eigentlich hier dem Zuschauer imponiert, sondern das Volk, als es im Theater erscheint. Aber dieses Volk braucht nach Goethe einen Regenten, der es leiten und führen kann, der ihn zugleich beeindrucken und heiligen kann, und dieser Regent wird in dem Amphitheater realisiert. Die Leute hier werden zu einer disziplinierten, ordentlichen Masse, nur weil sie jetzt ein Symbol ihres Daseins besitzen.
Dem Volk wird eine Identität durch das Theater gegeben, aber das hat auch Nachteile: es wird ihnen auch vorausgesetzt, was genau sie sind, und was sie machen sollen. Alles ist hier von der Vergangenheit und von der antiken Kunstwerke für das Volk bestimmt; haben sie noch ihrer Selbstbestimmung? Die Frage hier hat eigentlich mehrere Seiten, und zwar, was Goethe als Humanist betrifft, können wir fragen, ob er eine demokratische Perspektive hier zeigt oder nicht. Wenn ja, welches wegen der Beschreibungen des Volkes als imponierend hier richtig scheint, warum stehen die demokratischen Elemente dieser Beobachtung erst an der zweiten Stelle? Nicht das Volk beschreibt Goethe zuerst, sondern die Baukünste des Theaters selbst, und wie es noch so gut erhalten da steht, "etwas Großes und doch nichts." Dann im zweiten Teil beschreibt er, wie sich das Volk das Theater baute, das zuerst nur als Krater geschaffen wurde, dann endlich in die volle Majestät gelang. Wenn Goethe wirklich die Demokratie als etwas erwünschtes darzustellen hätte versuchen wollen, hätte er nicht die Majestät des Volkes an erster Stelle erwähnt?
Auch in seinen Beschreibungen der antiken Kunst ist Goethe ziemlich selbstbewußt. Er schreibt später, als er sich in Rom zum zweitenmal aufhält, daß seine Beschreibungen durchaus von seinem Geschmack in der Kunst abhängig sind, was auch natürlich ist. Woraus dieser Geschmack genau besteht ist eine viel schwierigere Frage, auf die er folgendes erwidert:
| Besonders schön find' ich das griechische Zeitalter; daß ich am römischen, wenn ich mich so ausdrücken darf, etwas Körperlichkeit vermisse, kann man vielleicht denken, ohne daß ich es sage. Es ist auch natürlich. Gegenwärtig ruht in meinem Gemüt die Masse des, was der Staat war, an und für sich; mir ist er wie Vaterland etwas Ausschließendes. Und ihr mußtet im Verhältnis mit dem ungeheuern Weltganzen den Wert dieser einzelnen Existenz bestimmen, wo denn freilich vieles zusammenschrumpfte und in Rauch aufgehn mag. (27.10.1787) |
Die winckelmannsche edle Einfalt und stille Größe dieser antiken Kunstwerke müssen wohl auf Goethe einen tiefen Eindruck gemacht haben. Er sieht in diesen Werken nicht nur die Kunst, obwohl das sicher eine wichtige Rolle spielt, aber auch die Menschen, die hinter der Kunst stehen. Die Figuren, aus denen die antiken Statuen und Gemälde bestehen, sind für Goethe Menschen, und können als solche analysiert werden, und sogar aus der naturwissenschaftlichen Perspektive, die ihn immer prägt. Auch sieht Goethe die Künstler selbst, die diese Kunstwerke geformt haben, nicht nur als ein Teil der Geschichte Italiens, aber auch als ein Teil ihrer Kunst. Goethe hat großer Acht vor diesen Künstlern; trotzdem erkennt er ihre Fehler, und zögert nicht, die schlechteren Seiten dieser Kunst bekannt zu machen, wie er schreibt:
| ... es geht mit der Kunst wie mit dem Leben: je weiter man hinkommt, je breiter wird sie. An diesem Himmel treten wieder neue Gestirne hervor, die ich nicht berechnen kann und die mich irremachen: die Carracci, Guido, Dominichin ... Es ist, als da sich die Kinder Gottes mit den Töchtern der Menschen vermählten, daraus entstanden mancherlei Ungeheuer. Indem der himmlische Sinn des Guido, sein Pinsel, der nur das Vollkommenste, was geschaut werden kann, hätte malen sollen, dich anzieht, so möchtest du gleich die Augen von den abscheulich dummen, mit keinen Scheltworten der Welt genug zu erniedrigenden Gegenständen wegkehren ... (19.10.1786) |
Es ist aber nicht nur in dem Bildhauerei und den Gemälden, die als ihre Hauptmotive Menschen haben, daß Goethe den wichtigen Einfluß der Menschen anerkennt. Auch in der Architektur, besonders den Tempeln und Kirchen der Antike, sieht Goethe, was für ein wichtiges Element der Kunst die Menschen als Gegenstand sind. Anhand seiner Kenntnis der Werke von Andreas Palladio (1508-80), dem großen Architekten der Paläste und Kirche Norditaliens, der auch vier Bücher über die römische und griechische Architektur schrieb, besichtigt Goethe viele alten Gebäude, in denen er nochmal einsieht, daß vor allem das Volk für die Wirkung der Kunst verantwortlich ist. In den Kunstwerken von Palladio bekennt Goethe, daß dieser ein großer Architekt sowohl wie ein großer Mensch war:
| Wenn man nun diese Werke gegenwärtig sieht, so erkennt man erst den großen Wert derselben; denn sie sollen ja durch ihre wirkliche Größe und Körperlichkeit das Auge füllen und durch die schöne Harmonie ihrer Dimensionen nicht nur in abstrakten Aufrissen, sondern mit dem ganzen perspektivischen Vordringen und Zurückweichen den Geist befriedigen; und so sag' ich vom Palladio: er ist ein recht innerlich und von innen heraus großer Mensch gewesen. (19.9.1786) |
Goethes naturwissenschaftliche Beobachtungen stehen auch unter starkem Einfluß von seinem überzeugten Glauben, daß der Mensch die zentrale Rolle in dem Versuch, die Welt zu verstehen, spielen muß. Goethe benahm sich auf dieser Reise nicht völlig wie ein Dichter, aber auch nicht wie ein normaler Mensch; er reiste zwar unter Verkleidung, aber er war immer noch der gelehrte und talentierte Mensch, der er immer war. Deswegen sah er die Welt nicht nur als Ursprung des literarischen Geistes, sondern auch als der natürliche, gesunde Ursprung des Lebens als Ganzes. Goethe war auch als Naturwissenschaftler gelehrt; er hatte Anatomie, Botanik, und Geologie studiert, und, unter dem Einfluß seiner Freunden (wie, zum Beispiel, Herder) wußte er verhältnismäßig viel über die natürliche Welt. So ist es, dann, daß wir ihn nicht nur als Dichter hier sehen. Seine Betrachtungen von den Gegenden, durch die er reist, enthalten fast immer Bemerkungen über die Pflanzenwelt, das Wetter, oder die Landschaft, die sicher auf ihn einen großen Eindruck machten und auf die er immer aufmerksam war. Ganz am Anfang wird dieses Interesse an der Welt der Natur uns bewiesen: obwohl er in einer Postkutsche schnell durch die Gegend südlich von Karlsbad reist, ist Goethe immer noch der Änderungen der Pflanzen und anderer Sachen in der Natur gewahr. Wie er das macht, wenn er so ein Tempo behält, ist unerklärbar, aber er macht es trotzdem. Auch sehen wir hier schon seine Betrachtungen, als durch die Menschen beeinflußt; die Bemerkungen, die er hier macht, finden in der Gesellschaft eines jungen Mädchens statt, das mit ihm in der Kutsche reist, und die übrigens sehr viele Merkmale der Mignonfigur trägt, die in Goethes späterem Roman Wilhelm Meister erscheinen wird. Es ist hier interessant, daß Goethe sowohl wie das Mädchen Betrachtungen über die Natur als etwas wichtiges, fast nötiges, ansehen; obwohl sie die Landschaft nie richtig berühren, werden sie sich der Änderungen in der Umgebung bewußt:
| Ich sprach sehr viel mit ihr durch, sie war überall zu Hause und merkte gut auf die Gegenstände. So fragte sie mich einmal, was das für ein Baum sei. Es war ein schöner großer Ahorn, der erste, der mir auf der ganzen Reise zu Gesichte kam. Den hatte sie doch gleich bemerkt und freute sich, da mehrere nach und nach erschienen, daß sie auch diesen Baum unterscheiden könne. (7.9.1786) |
Auf seiner Reise merkt Goethe mehrere Unterschiede zwischen den ihm bekannten Pflanzen und Gegenständen, und denen, die ihm jetzt erschienen. In fast allen diesen Betrachtungen zieht er aber das Menschliche hinein: es ist nie das reine Natürliche, das ihn interessiert, sondern ist es die Wirkung dieses Natürlichen auf das Menschliche. Seine Wahrnehmungen der Unterschiede in Maisarten sind, zum Beispiel, ganz eng mit der Wirkung dann auf den Menschen verbunden; doch merkt er diese Unterschiede, könnte man behaupten, nur weil er die Wirkung zuerst sieht, und die Ursache dann sucht. Als er sagt:
| Sobald mir vom Brenner Herunterfahrendem der Tag aufging, bemerkte ich eine entschiedene Veränderung der Gestalt, besonders mißfiel mir die bräunliche Farbe der Weiber. Ihre Gesichtszüge deuten auf Elend, Kinder waren ebenso erbärmlich anzusehen, Männer ein wenig besser, die Grundbildung übrigens durchaus regelmäßig und gut. Ich glaube die Ursache dieses krankhaften Zustandes in dem häufigen Gebrauch des türkischen und Heidekorns zu finden. Jenes, das sie auch gelbe Blende nennen, und dieses, schwarze Blende genannt, werden gemahlen, das Mehl in Wasser zu einem dicken Brei gekocht und so gegessen ... Notwendig muß das die ersten Wege verleimen und verstopfen, besonders bei den Kindern und Frauen, und die kachetische Farbe deutet auf solches Verderben. (14.9.1786) |
Wenn nur in einem stilistischen Sinne, können wir wenigstens hier sehen, daß Goethe dauernd an die Menschen denkt, sogar während seiner Beschreibungen der Pflanzenwelt. In dem nächsten Auszug spricht er von der Landschaft auf seiner Reise von Bozen bis Trient; er beschreibt zuerst den Fluß, der alles mit seinem Wasser lebendig macht, und dann spricht er auch von den vielen verschiedenen Pflanzenarten, die er hier sieht. Plötzlich aber erscheint in dieser Beschreibung der Pflanzenwelt ein Gleichnis mit dem menschlichen Wesen, das eigentlich in der Landschaft nicht gehört, sondern in der Stadt. Sicherlich ist es hier klar, daß Goethes Denkart völlig von den Menschen abhängt; sogar wenn er an die rein natürliche Landschaft denkt, erscheint plötzlich die künstlich gemachten Zöpfe der Frauen und die Jacken der Männer. Dieser geschwinde Übergang kann man klar sehen:
| Efeu wächst in starken Stämmen die Felsen hinauf und verbreitet sich weit über sie; die Eidechse schlüpft durch die Zwischenräume, auch alles, was hin und her wandelt, erinnert einem an die liebsten Kunstbilder. Die aufgebundenen Zöpfe der Frauen, der Männer bloße Brust und leichte Jacken, die trefflichen Ochsen, die sie vom Markt nach Hause treiben, die beladenen Eselchen, alles bildet einen lebendigen, bewegten Heinrich Roos. (11.9.1786) |
Meteorologie ist auch ein wichtiges Thema in den Wahrnehmungen Goethes. Das Wetter, so zu sagen, macht die Reise, und zwar in diesem Falle macht das Wetter den Menschen. Goethe selbst reagiert oft fast kindisch auf das Wetter; es ist, als ob er nie gutes Wetter in Deutschland erfahren hatte. Er klagt viel über das böse Wetter, das er vor seiner Reise erlebte, und äußert, daß er hoffentlich besseres Wetter in Italien zu erwarten haben wird. "In Italien sollen sie schön Wetter, ja zu trocken gehabt haben," schreibt er während schwerer Regenfälle. (8.9.1786)
Die Häufigkeit seiner Bemerkungen über das Wetter scheinen ihm eigentlich ziemlich peinlich zu sein. Er schreibt an Charlotte von Stein, daß er nur so viel über diese äußerlichen Ereignisse schreibt, weil sie so wichtig für ihn als Reisender sind, und weil sie auf ihn so einen großen Eindruck machen.
| Verzeihung, daß ich so sehr auf Wind und Wetter achthabe: der Reisender zu Lande, fast so sehr als der Schiffer, hängt von beiden ab, und es wäre ein Jammer, wenn mein Herbst in fremden Landen so wenig begünstigt sein sollte als der Sommer zu Hause. (3.9.1786) |
Die Wirkung des Wetters auf Goethe ist durch das ganze Buch auffällig stark; er reagiert auf das Wetter, als ob er selbst ein Kind wäre, mit Jauchzen bei schönem Sonnenschein, oder mit tiefster Depression, wenn das Wetter ihm nicht gefällt. Wenn es regnet, merkt er es immer als etwas schlechtes oder unerwünschtes; wenn es sonnig oder warm aber wird, notiert er wie alles wieder frisch und lebendig aussieht. In seinem zweiten Tagesbucheintrag schreibt Goethe von dem guten Wetter, das ihm zum erstenmal folgt, und wie der Kutscher darauf reagiert: er sagt "mit vergnüglichem Ausruf, es sei der erste im ganzen Sommer." (7.9.1786)
Zusätzlich verbindet Goethe das Wetter nicht nur mit sich selbst, aber auch mit den anderen Menschen und mit dem allgemeinen Volk. Mit seiner naturwissenschaftlichen Kenntnis weißt er, was für eine Folge das Wetter auf die menschliche Gestalt hat; doch befriedigt er sich nicht, das zu bemerken, sondern drückt er es auch klar den Lesern aus. Nach einer Beschreibung des Wetters des Tages spricht er dann von den Leuten, die er auf seine Reise sieht:
| Die Gestalten bleiben sich ziemlich gleich, braune, wohlgeöffnete Augen und sehr gut gezeichnete schwarze Augenbraunen bei den Weibern; dagegen blonde und breite Augenbraunen bei den Männern. (8.9.1786) |
Das Wetter ist nicht nur die Ursache für diese körperlichen Merkmale, sondern auch die Ursache des menschlichen Verhaltens und Lebens. Venedig, als Goethe und viele anderen bemerkt haben, ist eine ganz schmutzige Stadt: schon damals gab es Ausbrüche der Cholera und anderer Seuchen, wegen des unsauberen Wassers in den Kanälen (vgl. Thomas Manns Tod in Venedig, wo die Unsauberkeit des Wassers auch ein möglicher Grund für den Tod Aschenbachs ist). Aber es ist nicht nur die Unsauberkeit des Wassers, daß der Ursprung der ungesunden Lage der Stadt ist, behauptet Goethe. Die Einwohner der Stadt sind selbst schuldig, weil sie sich nicht um ihre persönliche Körperpflege kümmern. Daß sie das nicht machen, ist wiederum eine Folge des Wetters:
| Wenn ein Tag Regenwetter einfällt, ist ein unleidlicher Kot, alles flucht und schimpft, man besudelt beim Auf- und Absteigen der Brücken die Mäntel, die Tabarros, womit man sich ja das ganze Jahr schleppt, und da alles in Schuh und Strümpfen läuft, bespritzt man sich und schilt, denn man hat sich nicht mit gemeinem, sondern beizendem Kot besudelt. Das Wetter wird wieder schön, und kein Mensch denkt an Reinlichkeit. (9.10.1786) |
Auch bei geologischen Beobachtungen hängen die Gedanken Goethes immer mit dem Volk zusammen. Ziemlich oft beschreibt er die umliegende Landschaft in geographischer Terminologie, als er die Felsen, ihre Farben und Strukturen, und die Wirkung derselben auf die Gebirge oder Erde in der Nähe zur Kenntnis nimmt. Auch hier kann man sehen, daß der Gedanke des Volkes immer in Goethes Denkart anwesend ist, und daß er diese Gedanken wirklich nicht von den Beschreibungen trennen kann. Er schreibt, zum Beispiel, über eine Seite lang von den Kalkalpen und Felsen in der Nähe von dem Brenner; plötzlich dann unterbricht er seine eigenen Gedanken mit den Sätzen: "Vom Äußern des Menschengeschlechts habe ich so viel aufgefaßt. Die Nation ist wacker und gerade vor sich hin." Er geht weiter in diesem Stil, und bespricht die Kleidung der Menschen, und dann bringt er sich wieder zu der Geologie zurück: "Diesen [den Zügen der Männer] geben die grünen Hüte zwischen den grauen Felsen ein fröhliches Ansehn," schreibt er am 8.9.1786.
Es ist aber interessant hier zu merken, daß in genau den Beschreibungen, wo man erwarten würde, daß die Gedanken über das Volk am stärksten sein würden, erscheinen diese Äußerungen fast nur in Zusammenhang mit einer naturwissenschaftlichen Perspektive. Wir haben schon die Beschreibung des Amphitheaters zu Verona gesehen, in dem Goethe das Amphitheater mit dem Volk füllt, um einen mathematischen Maßstab zu haben, nach dem er die Größe des Theaters schätzen kann. Doch hier gibt es andere Zeichen seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung. Nicht nur will er das Theater mathematisch ausrechnen, aber seine ganze Beschreibung dreht sich um die Entstehung des Bauwerkes, wie das Volk dem Theater den Anfang gab, und wie es dann später zu einem vollständigen Bauwerk gemacht wurde. Hier ist seine Betrachtung nicht nur aus einer volkstümlichen, noch aus einer kunstliebenden Sicht aufgebaut, sondern aus einer Kombination dieser Elemente: Architektur, Menschenbetrachtung, und Wissenschaft führen zusammen zu seiner stilistischen Kunst. Wahre Literatur, so zu sagen, besteht dann nur aus vielen verschiedenen Elementen, wie hier.
In den Beschreibungen Goethes von der Gesellschaft Italiens sehen wir auch, wie die Verbundenheit seiner Gedanken mit dem Volke durchscheint. Zwar erzählt er von der Gesellschaft, die er sieht, aber er macht es auf so eine Weise, daß wir durchaus glauben müssen, daß ein Wissenschaftler es geschrieben hat. Eine der Hauptelemente seiner Beschreibungen ist, daß er fast alles von dem, was er sieht, zu kategorisieren versucht. Die Kleidung, die Klassen der Gesellschaft, das Verfahren der Italiener - alles wird von ihm beschrieben und in verschiedene Gruppen ausgeteilt. In einer bemerkenswerten Betrachtung über die Einwohner der südlichen Gegend haben wir ein eindeutiges Bild dieser Technik Goethes. Er beschreibt hier, wie die Leute aussehen, aber er macht es nicht als normaler Dichter, nur mit schönen Worten und guter Form, sondern versucht er, die Gruppen der Gesellschaft aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive zu verteilen, nach ihren Geschlechtern sowohl wie ihren Gesichtern.
| [Die Hüte der Männer] tragen sie geziert mit Bänden oder breiten Schärpen von Taft mit Franzen, die mit Nadeln gar zierlich aufgeheftet werden. Auch hat jeder eine Blume oder eine Feder auf dem Hut. Dagegen verbilden sich die Weiber durch weiße, baumwollene, zottige, sehr weite Mützen, als wären es unförmliche Mannesnachtmützen. |
Dem Verhalten und den physischen Merkmalen der Menschen, die Goethe beschreibt, versucht er auch einen Grund zu geben, um seine Leser zu überzeugen sowie auch um es ihm selbst klar zu stellen. In diesem Sinne verhält er sich fast wie ein Wissenschaftler: er sieht eine Sache, die er erklären will, dann sucht er, durch seine Kenntnis der Menschen so wie auch durch weitere Beobachtung, die Ursachen und Grundlagen dieser Sachen herauszufinden. Er will selbstverständlich nicht alles erklären, und er gibt freilich zu, daß er nicht immer recht hat und daß er nicht alles weiß.
Doch lohnt es sich eigentlich hier, eine Untersuchung in einige wissenschaftlichen Fehler, die Goethe macht, auszuführen. Weil er natürlich ein ausgebildeter Mensch war, hatte Goethe eine gute Kenntnis des wissenschaftlichen Studiums, wenigstens verhältnismäßig zu der Zeit gut. Er zeigt aber viele Unsicherheiten und falsche Auskunft zu haben, die vielleicht typisch während des 18. Jahrhunderts waren. An erster Stelle steht dann sein Glauben über das Wetter. Hier zeigt er eine wissenschaftliche Naivität typisch für den achtzehnten Jahrhundert, indem er zu glauben äußert, daß das Wetter in den Bergen irgendwie "gemacht" wird, oder daß es wenigstens da entsteht.
| So scheint auch die Witterung für den ganzen Norden diesen Sommer über durch die große Alpenkette, auf der ich dieses schreibe, bestimmt worden zu sein. Hier hat es die letzten Monate her immer geregnet, und Südwest und Südost haben den Regen durchaus nordwärts geführt. (8.9.1786) |
Auch ist Goethes wissenschaftlicher Stil, der immer zu klassifizieren versucht, in seinen Beschreibungen von den Menschen und von ihrem Verhalten ganz sichtbar. Er versucht nicht nur, ihre Gesichter und äußerliche Züge wissenschaftlich darzustellen, sondern hat er auch die Aufgabe, Gründe dafür zu geben; außerdem, was hier im besonderen vorkommt, will er sie als Subjekte einer wissenschaftlichen Untersuchung auslegen, Seite an Seite, um sie miteinander zu vergleichen. Wie der Wissenschaftler, der zwei Spezies des selben Tieres nebeneinander stellt, um die Unterschiede erkennen zu können, stellt Goethe die Gegenstände, die er auf seine reise wahrnimmt, nebeneinander und beschreibt denn das, was aus diesem Vergleich zu sehen kommt. Er ist durchaus der Wissenschaftler, als er hier beschreibt, wie die Leute in der Stadt mit den Leuten auf dem Land verglichen werden können.
| Was meine Meinung wegen der Nahrung bestätigt, ist, daß die Stadtbewohnerinnen immer wohler aussehen. Hübsche, volle Mädchengesichter, der Körper für ihre Stärke und für die Größe der Köpfe etwas zu klein, mitunter aber recht freundlich entgegenkommende Gesichter. Die Männer kennen wir durch die wandernden Tiroler. Im Lande sehen sie weniger frisch aus, wahrscheinlich, weil diese mehr körperliche Arbeiten, mehr Bewegung haben, die Männer hingegen als Krämer und Handwerksleute sitzen. (14.9.1786) |
Wenn Goethe versucht, über das Verhalten der Menschen selbst genau zu berichten, ist es immer der Fall, daß seine Beschreibungen von seiner naturwissenschaftlichen sowohl wie von seiner literarischen Ausbildung geprägt sind. So, zum Beispiel, sehen wir in seinen Bemerkungen, die immer wunderschön und symbolträchtig ausgedrückt sind, auch Elemente der wissenschaftlichen und technischen Wahrnehmung, die als ihr Ziel die Untersuchung und Lösung von Diskrepanzen hat. Er nimmt diese Diskrepanzen wahr, weil er immer ein Auge an die Landschaft und die Umgebung auf seiner Reise schauend behält.
Wie wir schon gesehen haben, bringt Goethe viele Ursachen für das menschliche Verhalten zusammen, um ein vollkommenes Bild der italienischen Gesellschaft leisten zu können. Was er auf seiner Reise sieht, ist natürlich nicht alles, was es da zu sehen gibt, aber es ist doch ziemlich viel. Er reist, wie gesagt, in einer Kutsche; das heißt, das er die ganze Reise mit nicht so viel persönlicher Mühe und Ausgebung von Zeit und Kraft unternimmt, als hätte er die Reise zu Fuß gemacht. Trotzdem bekommt er, wie wir sehen, ein gutes Bild der italienischen Landschaft. Die Lage ist fast dieselbe in Bezug auf die italienische Gesellschaft und auf das Volk. Goethe hat diese Reise nicht als Minister gemacht, aber auch nicht als ein normaler Teil des gemeinen Volkes: er reist als ausgebildeter Maler, der mit anständigen Vermögen eine lange Reise durch Europa unternimmt. In diesem Zusammenhang kommt er dann gewöhnlich nicht mit dem Normalbürger Italiens in Kontakt. Er reist als reicher Mann, übernachtet im Hotel oder Pension, und hat genügend Geld, das zu tun, was er will. Als er selbst merkt, ist er dann oft ein Außenseiter zu der italienischen oder sogar zu der reisenden Gesellschaft; er sagt an einer Stelle, daß er zum Teil versucht hat, sich der Gesellschaft anzupassen, denn das italienische Volk schnell bemerkt, daß er nicht als ihresgleichen gilt:
| Obgleich das Volk seinen Geschäften und Bedürfnissen sehr sorglos nachgeht, so hat es doch auf alles Fremde ein scharfes Auge. So konnt' ich die ersten Tage bemerken, daß jedermann meine Stiefel betrachtete, da man sich derselben als einer teuern Tracht nicht einmal im Winter bedient. Jetzt, da ich Schuh und Strümpfe trage, sieht mich niemand mehr an. (17.9.1786) |
Manchmal erscheint es aber in den Beschreibungen Goethes, daß er eher zynisch über das Volk beurteilt. Er sieht zwar das Volk als etwas ganz gutes und würdiges, doch gibt es Elemente seines Stils und seines Tons, nach denen man beurteilen könnte, daß er volkstümliche Handlungen ziemlich negativ betrachtet. Das Volk ist interessanterweise für Goethe fast immer eine große unausgebildete Masse, die nicht weiß, wie es sich benehmen soll oder was für Konsequenzen seine Taten haben können. Wie in der Beschreibung des Amphitheaters zu Verona sehen wir oft das Volk als das "vielköpfige, vielsinninge, schwankende, hin und her irrende Tier," das ein Führer braucht, um etwas vernünftiges zu verrichten. So lautet dann eine typische Wahrnehmung der italienischen Gesellschaft an einem Markttag in Verona:
| Übrigens schreien, schäkern und singen sie den ganzen Tag, werfen und balgen sich, jauchzen und lachen unaufhörlich. Die milde Luft, die wohlfeile Nahrung läßt sie leicht leben. Alles, was nur kann, ist unter freiem Himmel.
Nachts geht nun das Singen und Lärmen recht an ... Sie üben sich, alle Vögel mit Pfeifen nachzumachen. Die wunderlichsten Töne brechen überall hervor. Ein solches Übergefühl des Daseins verlieht ein mildes Klima auch der Armut, und der Schatten des Volkes scheint selbst noch ehrwürdig. (17.9.1786) |
Hier sehen wir nicht nur, daß Goethe sich auf das Volk als ein lebendiges Wesen konzentriert, sondern auch sehen wir, genau wie er das Verhalten des Volkes beschreibt und beurteilt. Er versucht dann zu erklären, aus welchen Gründen das Volk so fröhlich und lebendig aussieht, und er findet als Ursache das Wetter und "die milde Luft." Es ist klar, das Goethe an dieser Gesellschaft nicht teilnehmen will; er sieht das Verhalten des Volkes fast als leichtsinnig oder albern, doch auch als etwas ehrwürdiges am Ende, weil es einfach so viel über das Wesen der italienischen Gesellschaft sagt. Es ist auch wichtig hier zu anerkennen, daß Goethe nur einen spezifischen Teil der Gesellschaft in dieser Szene wahrnimmt. Er sieht nur die Gesellschaftsschichten, die sich am Markt befinden, nicht das ganze Volk. Später notiert er sogar, die Unterschiede zwischen den einfachen Leuten und den höheren Klassen der Gesellschaft, wenigstens das, was ihre Wohnungsarten betrifft:
| Die uns so sehr auffallende Unreinlichkeit und wenige Bequemlichkeit der Häuser entspringt auch daher: sie sind immer draußen, und in ihrer Sorglosigkeit denken sie an nichts. Dem Volk ist alles recht und gut, der Mittelmann lebt auch von einem Tag zum anderen, der Reiche und Vornehme schließt sich in seine Wohnung, die eben auch nicht so wohnlich ist wie im Norden. |
Der große Einfluß der Gedanken über das Volk wird nochmal sichtbar in den Städtebildern, die Goethe aus Venedig und Rom wahrnimmt. Hier ist Goethe wieder nicht ein normaler Reisender oder Tourist. Er sieht zwar das, was der typische Tourist sieht, oder wenigstens was damals gewöhnlicherweise als sehenswert empfunden wurde, aber er sieht auch viel mehr. Es ist vor allem in der Genauigkeit der Wahrnehmungsvermögen Goethes, daß wir hier erstaunen müssen. Er gibt uns nicht nur ein Bild von dem, was er als besonders schön oder betrachtenswert empfindet, sondern auch von dem, was er als rein wichtig für eine gute Verständnis von Italien betrachtet. In dem Bild von Venedig, das Goethe uns vorstellt, sehen wir, wie groß eine Rolle das Volk in seinen Gedanken eigentlich spielt. In den ersten Worten, die er über die Stadt selbst äußert, sagt er: "Was sich mir aber vor allem andern aufdringt, ist abermals das Volk, eine große Masse, ein notwendiges, unwillkürliches Dasein." (29.9.1786)
Das Volk spielt offenbar hier für Goethe die wichtigste Rolle in der Stadt und in dem Leben der Menschen. Auch ist wieder sichtbar Goethes Wahrnehmung der Gesellschaft aus einer wissenschaftlichen Perspektive: er sieht hier nicht nur die Stadt, als sie aus Menschen, Gebäuden, Straßen und so weiter besteht, sondern auch als sie geformt und aufgebaut wurde. Die weitere Beschreibung von Venedig lautet folgendes:
| Dies Geschlecht hat sich nicht zum Spaß auf diese Inseln geflüchtet ... die Not lehrte sie ihre Sicherheit in der unvorteilhaftesten Lage suchen, die ihnen nachher so vorteilhaft ward und sie klug machte, als noch die ganze nördliche Welt im Düstern gefangen lag; ihre Vermehrung, ihr Reichtum war notwendige Folge. Nun drängten sich die Wohnungen enger und enger, Sand und Sumpf wurden durch Felsen ersetzt, die Häuser suchten die Luft, wie Bäume, die geschlossen stehen, sie mußten an Höhe zu gewinnen suchen, was ihnen an Breite abging ... Übrigens war ihnen das Wasser statt Straße, Platz und Spaziergang. Der Venezianer mußte eine neue Art von Geschöpf werden, wie man denn auch Venedig nur mit sich selbst vergleichen kann. (29.9.1786) |
Hier wird das Volk irgendwie als eine Symbiose von Wasser und Land dargestellt, was völlig richtig in Bezug auf Venedig scheint. Doch sieht er nicht nur das Volk in dieser Stadt als der Funken des bürgerlichen Lebens, sondern auch als die Begründer und Erbauerr der Stadt. Die Geschichte dieser Stadt erwähnt er auch, als er an sie denkt, und wie sie praktisch aus dem Meer entsprungen ist. Der erste Blick dieser Stadt, den Goethe hat, kommt, als er durch die Kanäle der Stadt hereingleitet. Wie er später zu dem Werk hinzufügte:
| So stand es denn im Buche des Schicksals auf meinem Blatte geschrieben, daß ich 1786 den achtundzwanzigsten September, abends, nach unserer Uhr um fünfe, Venedig zum erstenmal, aus der Brenta in die Lagunen einfahrend, erblicken und bald darauf diese wunderbare Inselstadt, diese Biberrepublik betreten und besuchen sollte. (28.9.1786) |
Auch in den späteren Beschreibungen der Stadt Venedig steht für Goethe das Wasser als der ständige Hintergrund für seine Betrachtungen. Weil es nicht so viel Land in der Stadt selbst gibt, kann Goethe nicht immer vieles über die Landschaft uns erzählen; stattdessen macht er hier seine Bemerkungen über die Gewässer und über die Wirkung des überall zu sehenden Wassers auf das Volk. Vielleicht auch aufgrund der Kanäle Venedigs verliert Goethe oft in dieser Stadt seinen Orientierungssinn; die Stadt wird für ihn verwirrend und wie ein Labyrinth. Als er schreibt:
| Gegen Abend verlief ich mich wieder ohne Führer in die entferntesten Quartier der Stadt. Die hiesigen Brücken sind alle mit Treppen angelegt, damit Gondeln und auch wohl größere Schiffe bequem unter den Bogen hinfahren. Ich suchte mich in und aus diesem Labyrinthe zu finden, ohne irgend jemand zu fragen, mich abermals nur nach der Himmelsgegend richtend. (30.9.1786) |
In Verona sehen wir aber, daß Goethe vorher auf diese Verlust des Orientierungssinnes verzichten wollte, indem er vom Anfang an versucht, sich gut in der Stadt auskennen zu lernen. Hier spielt er wieder die gewöhnliche Rolle des Wissenschaftlers: nicht nur kauft er sich eine Karte, wie die meisten Touristen, um seine Erfahrung in Venedig hoffentlich zu vermeiden; auch aber greift er sich die Sache direkt an. Er steigt in einen Turm oberhalb der Stadt hinauf, und versucht, die Stadt ein bißchen besser auf diese Weise zu verstehen. In dieser Szene, wo er dann von oben auf die Stadt herunterschaut, sehen wir genau das, was wichtig in Goethes Beschreibungen liegt. Er beschreibt hier, nicht wie man von einem normalen Menschen erwarten würde, etwa den Verlauf der Strassen oder das ganze Bild der Stadt selbst, sondern sieht er exklusiv hier die Menschen, als sie ihre täglichen Geschäfte verrichten:
| Ich war ganz allein, und unten auf den breiten Steinen des Brà gingen Mengen von Menschen: Männer von allen Ständen, Weiber vom Mittelstande spazieren. Diese letztern nehmen sich in ihren schwarzen Überkleidern aus dieser Vogelperspektive gar mumienhaft aus. (16.9.1786) |
Auch in der Beschreibung des Amphitheaters zu Verona sehen wir ein Beispiel der Technik Goethes in seinen Wahrnehmungen über die Städte, die er auf seiner Reise besucht. Hier sieht er, wie in der Stadt Verona selbst, daß das Leben des Volkes in dem Theater aufgefasst ist; es ist zwar künstlich gemacht, aber auch kunstvoll. Das Volk hat nicht nur in dem Theater ein Zeichen seiner Majestät, sondern auch einen Beweis, daß sie selber etwas großes verrichten können. Das Leben des Volkes dreht sich dann um das Theater: es ist das Zentrum der Stadt, wörtlich so wie auch metaphorisch gemeint, denn sie liegt in der Mitte der Stadt sowohl wie in der Mitte des bürgerlichen Lebens.
Als Schluß dieser Untersuchung in die Wahrnehmungsfelder Goethes soll hier seine Bezeichnung von einer Erfahrung, die er in der Nähe von Malcesine erlebte, zitiert werden. Er, als Maler verkleidet, ging eines Morgens in das alte Schloß, um es zu sehen und, wie es sich herausstellte, um es zu zeichnen, weil es in dieser Hinsicht so passend aussah. Er hatte, sagte er, "zum Zeichnen ein sehr bequemes Plätzchen gefunden," und er setzte sich mit seinem Zeichnen fort. Er hatte aber sehr bald eine Überraschung:
| Ich saß nicht lange, so kamen verschiedene Menschen in den Hof herein, betrachteten mich und gingen hin und wider. Die Menge vermehrte sich, blieb endlich stehen, so daß sie zuletzt mich umgab ... Endlich drängte sich ein Mann zu mir, nicht von dem besten Ansehen, und fragte, was ich da mache. Ich erwiderte ihm, daß ich den alten Turm abzeichne, um mir ein Andenken von Malcesine zu erhalten. Er sagte darauf, es sei dies nicht erlaubt, und ich sollte es unterlassen. (14.9.1786) |
Nach einer langen Besprechung über den Dialekt und den Akzent, mit dem dieser Mann sprach, erzählt Goethe, wie er Widerstand zu diesem Befehl leistete, aber wie es ihm eigentlich nicht gelungen ist; er versucht, den Mann davon zu überzeugen, daß er dessen Worte nicht verstehen könne, dann aber macht der Mann seine Meinung ihm klar: "Er ergriff darauf mit wahrer italienischer Gelassenheit mein Blatt, zerriß es, ließ es aber auf der Pappe liegen." Als es sich herausstellt, glauben die Leute da versammelt, daß Goethe möglicherweise ein Spion oder Feind von Italien sein könnte, der Auskunft sucht, um es seinen Herren zu erteilen. Als Goethe aber darauf erwidert, daß er von Frankfurt am Main herkommt, fragt ihn ein Mann, der da eine Zeit lang geblieben ist, spezifische Informationen über diese Stadt.
| Als ich ihm nun die genaueste Auskunft fast über alles gegeben, um was er mich befragt, wechselten Heiterkeit und Ernst in den Zügen des Mannes. Er war froh und gerührt, das Volk erheiterte sich immer mehr und konnte unserm Zwiegespräch zuzuhören nicht satt werden, wovon er freilich einen Teil erst in ihren Dialekt übersetzten mußte. |
Es wird Goethe dann endlich nicht erlaubt, den Turm abzuzeichnen, aber er bekommt als Entschädigung dafür einen Begleiter, der ihn die Stadt und die Gegend durchführt. Was aber in dieser Geschichte deutlich zum Schein kommt, ist die Methode, in der Goethe sich auf die Beschreibungen des Volkes konzentriert. Obwohl die ganze Handlung sich um die Gespräche zwischen Goethe und diesem Mann dreht, wirft Goethe ständig in seine Beschreibung Bemerkungen über das Volk und über das, was sie zur Zeit machen, ein. Seine ganze Konzentration scheint, wie durch das ganze Tagebuch, um das Volk zu kreisen.
Wir können dann ohne große Bedenken sagen, daß die Wahrnehmungsvermögen Goethes in diesem Werk völlig mit seinem Bild des Volkes verbunden sind. Durch das ganze Tagebuch erscheinen seine Beobachtungen und Bemerkungen sich immer auf das Verhalten und auf das ganze Wesen des Volkes zu richten; sogar in seinen kunst- und naturwissenschaftlichen Betrachtungen spielt der Mensch immer die wichtigste Rolle. Die Vorstellungen, die diese Reise für ihn bildete, sind unausweichlich von dem Menschen abhängig, und es kommt dann als keine Überraschung, daß Goethe später diese Reise als das prägende Erlebnis seiner Jugendzeit betrachtete. Die Leser seiner Erfahrungen täten gut daran, das Werk auch auf diese Weise zu betrachten, denn es bietet mit Zeit und Mühe viel mehr, als man erwarten würde.
Written and © Nancy Thuleen in 1992 during a semester at the Philipps-Universität Marburg.
If needed, cite using something like the following: Thuleen, Nancy. "Beobachtung und Wahrnehmung in der Italienischen Reise." Website Article. 29 June 1992. <http://www.nthuleen.com/papers/MGoethe.html>.
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