Die verschiedenen Figuren und Darsteller des Todes in Manns Tod in Venedig können, ihren physischen Merkmalen sowohl wie ihren Ähnlichkeiten zu den antiken Vorstellungen von dem Tode entsprechend, in einige Gruppen geteilt werden. Viele dieser Figuren erinnern den Leser an das mittelalterliche oder das griechische Bild des Todes, jedoch scheinen viele einfach da zu sein, um dem Roman eine tiefere Symbolik zu leihen. Doch bilden alle diese Figuren ein Leitmotiv oder ein Grundmuster für das ganze Roman; wie ihre wagnerischen Gegenstücke, geben sie der Geschichte ein Gefühl des unausweichlichen und drohenden Todes Aschenbachs.
Eine Art von Todesfigur in dem Roman kommt in der Anspielung auf die mittelalterliche Darstellung des Todes, oft als Skelett oder Schädel, vor. Wie in vielen alten Kunstwerken sehen wir in diesen Figuren weiße oder gelbe Zähne, eine Grimasse, rotes Haar, und eine kurze, meistens aufgeworfene Nase. Der Reisender, zum Beispiel, dem Gustav von Aschenbach am Nördlichen Friedhof in München begegnet, stellt offensichtlich eine Art vom Tode dar: er ist "mäßig hochgewachsen, mager, bartlos und auffallend stumpfnäsig," er gehört "zum rothaarigen Typ und [besitzt] dessen milchige und sommersprossige Haut." (Kapitel I) Die rote Farbe des Haares ist hier repräsentativ für den Tod, zum Teil weil sie ein Anzeichen des Teuflischen ist, aber auch weil sie uns an Blut, Feuer, und Zerstörung erinnert. Auch bilden die Bartlosigkeit und die Magerkeit ein eindeutiges Metapher für die Totengerippe.
Die anderen Männer, den Aschenbach im Laufe der Erzählung begegnet, die den Tod symbolisch darstellen, haben auch viele derselben Merkmalen gemeinsam. Die zweite wichtige Todesgestalt, der Gondolier in Venedig, hat, zum Beispiel, rötliche Brauen und eine kurze aufgeworfene Nase, und er trägt eine gelbe Schärpe. (Kapitel II) Die gelbe Farbe dieser Schärpe deutet schon wieder auf die alten Todesbilder an: sie ist ein typisches Zeichen des Verfalls und der Verwesung, vielleicht weil sie mit Krankheiten wie Gelbsucht assoziiert ist. Zusätzlich ist die Haut dieser Figuren, im besonderen die Haut der dritten Todesgestalt, des Sängers im Hotel, als alternd oder verwelkt geschildert. Hier beschreibt der Erzähler das Gesicht des Sängers:
| Sein bleiches, stumpfnäsiges Gesicht, aus dessen bartlosen Zügen schwer auf sein Alter zu schließen war, schien durchpflügt von Grimassen und Laster, und sonderbar wollten zum Grinsen seines beweglichen Mundes die beiden Furchen passen, die trotzig, herrisch, fast wild zwischen seinen rötlichen Brauen standen. (Kapitel V) |
Der Sänger hat auch Merkmale der mittelalterlichen Todesvorstellungen, als der Erzähler beschreibt, wie "ein Wulst seines roten Haars unter der Krempe hervorquoll." Nicht nur rotes Haar hat er, aber auch, wie der Gondolier, rötliche Brauen mit Furchen (vgl. die Hörner des Teufels). Seine Haltung, gleich dem traditionellen Teufelsbild, ist freche Bravour; er ist als brutal und verwegen dargestellt. Seine Züge sind bartlos, voll Grimassen und Laster; auch, was hier bemerkenswert vorkommt, lacht er die Gäste aus, und zwar mit Hohngelächter, was zugleich seine Kühnheit und Brutalität beweist.
Auch eine Art der Schilderung des Todes in dem Roman ist die Gestalt des Todes, als sie in der Antike vorkommt. Thomas Mann verläßt sich hier stark auf die alten griechischen und römischen Todesbilder, die ihm bekannt waren, und die den Tod weder als Freund noch als Feind darstellen, sondern als etwas fremdes, kräftiges, herrschendes, oder auch reisendes. Hier ist wichtig die Beschreibung des Erzählers, wie der Mann am Friedhof "ein Gepräge des Fremdländischen und Weitherkommenden" zeigt. Er, wie die anderen Todesfiguren, ist Aschenbach völlig fremd: er ist "durchaus nicht bajuwarischen Schlages," wie ein Reisender gekleidet und hat andere typische Merkmale der alten griechischen Todesgestalten: entweder zeigt sich hier ein direktes Metapher, wie die Anspielung auf den Seelenführer Charon, der die Toten über den Styx führt (vgl. der Gondolier in Venedig), oder ein indirektes Andeuten auf andere griechischen Götter und Mythen, zum Beispiel Hermes, Narziß oder Persephone.
Der Gondolier in Venedig wird als ein weiteres Symbol des Todes dargestellt, indem er fast gleich wie die erste Todesfigur beschrieben wird. Dem Charon ähnlich, führt er Aschenbach durch die Kanäle Venedigs, als ob dieser schon eine Totenseele wäre. Der Gondel dieses Fährmanns ist als pechschwarz beschrieben, und zwar "so eigentümlich schwarz, wie sonst unter allen Dingen nur Särge sind." Auf einmal glaubt Aschenbach, entführt zu werden, dann wird das Bild noch symbolträchtiger, als er nach dem Preis der Fahrt fragt, und der Gondolier antwortet: "Sie werden bezahlen." Wie die Toten, die ihr Geld schon unter den Zungen tragen, hat Aschenbach keine Wahl, als zu bleiben und zu bezahlen. Die Anspielung auf Hermes, der traditionell mit Basthut, Stock und Beutel (gleich dem Reisenden und dem Sänger) abgebildet wird, läßt sich auch hier klar erkennen; ebenso blicken die Erwähnungen der Narziß- und Hyakinthosfiguren (Kapitel IV) auf das Ende der Novelle klar voraus. Persephone, die dem Hades verfiel, als sie einen Granatapfel des Gottes aß, ist auch zu erblicken, als Aschenbach in Venedig ein "Gemisch aus Granatapfelsaft und Soda, das vor ihm rubinrot im Glase [funkelt]," trinkt. (Kapitel V)
Sehr wichtig in dieser Erzählung sind die ständigen Anspielungen auf den Kontrast zwischen den Göttern Apollon und Dionysos, besonders als diese von Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie beschrieben werden. Dionysos, der fremde Gott (aus Asien-Indien importiert, steht er in der Novelle für den Rausch und die Ewigkeit), befindet sich hier ganz offenbar im Gegensatz zu Apollon (der griechische Gott, der hier Besonnenheit und Selbstbeherrschung darstellt). Sicherlich weisen die drei Todesboten auf den Tod Aschenbachs ziemlich deutlich hin, jedoch gibt es noch einige Figuren, die das Ende des Romans unausweichlich voraussagen. Der Tiger, zum Beispiel, der immer wieder in Beschreibungen des Erzählers auftaucht, ist gewiß ein Symbol des Dionysischen; er stellt den Rausch, die Irrationalität, die Gefühle, und die Neigung zu Unordnung dar. Seine funkelnden Augen, die Aschenbach erblickt, als er an eine Reise nach Venedig denkt, sind der Funken, der seine Reiselust anzündet. Auch die Seuche, die Cholera, die in Venedig ausbricht, ist ein Zeichen des Dionysischen, des Monströsen und der Ausschweifung; sie ist auch fremd, denn sie kommt aus Indien, berichtet der englische Botschafter, aus dem "von Menschen gemiedenen Urwelt- und Inselwildnis, in deren Bambusdickichten der Tiger kauert," und sie bringt mit ihr das Chaos.
In Kontrast zu diesen Figuren des Wilden stehen dann die apollinischen Merkmale in Figuren wie die Familie Tadzios, die ordentlich, aufrecht, und anständig ist, sowie auch in Aschenbach selbst, als er in Kapitel II beschrieben wird, mit seinem Willen zum Schreiben, seiner Besonnenheit, Selbstbeherrschung, und seinem "Durchhalten." Hier, könnte man behaupten, geht es eigentlich um einen Kampf zwischen dem Dionysischen und dem Apollinischen, wie deutlich wird in den Gesprächen und in dem inneren Monolog Aschenbachs, als er allein in Venedig sitzt und an Platons Phaidros denkt. Hier versucht er, sich selbst davon zu überzeugen, daß seine Liebe zu Tadzio unterdrückt werden muß, weil es nur zur Zerstörung führen kann, da "dies ein gefährlich-lieblicher Weg sei, wahrhaft ein Irr- und Sündenweg, der mit Notwendigkeit in die Irre leitet." (Kapitel V) Jedoch gelingt es ihm nicht, trotz seines Strebens, und er gibt sich dann völlig in das Dionysische auf. Auch die Cholera verweist an diesen Kampf, wobei der Sänger versucht, gegen die Gefahr der Cholera mit dem Auftragen der Phenol zu kämpfen, was Aschenbach an dem Karbolgeruch erkennt. Dieses Problem könnte aber auch als ein zweiseitiges Gefühl ausgedrückt werden, worin das Dionysische zugleich eine Attraktion sowohl eine Bedrohung für Aschenbach präsentiert. Auch sein Traum, der völlig orgiastisch und rauschhaft ist, hat manche Elemente des Strebens nach der Kontrolle und nach dem dichterischen Geist, den Aschenbach verloren hat. Nachdem entschließt er sich denn, seine Jugend, gleich dem alten Greis am Schiff, verfälschen zu lassen, und er wird nicht mehr als apollinisch oder sokratisch, sondern als dionysischer Mensch erkennbar.
In diesem Beschluß sehen wir dann noch eine Art der Darstellung des Todes: die gefälschte Jugend, die Aschenbach zuerst lächerlich findet und die er zur Seite schiebt, aber die später für ihn die Methode seiner Werbung an Tadzio wird. Der falsche Jüngling am Schiff, der seinen jüngeren Freunden irgendwie anpaßt aber dann auffällig betrunken wird, hat viele Elemente des antiken und mittelalterlichen Todes. Er trägt, zum Beispiel, die typischen Farben: einen hellgelben, übermodisch geschnittenen Sommeranzug, und eine rote Krawatte. Sein Hut, der ähnlich wie der Hut des Reisenden aussieht, ist auch wichtig. Sein Gebiß ist sogar gelb, und er hat ein "gefärbtes, ausgesetztes Schnurrbärtchen." (Kapitel III) In diesem Sinne paßt er auch zu der Reihe von Todesfiguren des Romans. Der junge Tadzio selbst trägt einige Züge des Todes: seine schlechte Zähne, woher Aschenbach weiß, daß er nicht ganz gesund ist, sind eine Andeutung auf die Krankheit oder möglicherweise auch auf das Schädel oder den Totenkopf. Tadzio trägt gelegentlich eine rote Krawatte, die zugleich erotisch als auch mahnend des Todes auf Aschenbach wirkt. Am Ende dann scheint er doch ein Todesbegleiter oder Seelenführer zu sein, als er Aschenbach in das "Verheißungsvoll-Ungeheuere" führt.
Das Leitmotiv, das durch diese Todesboten und die Anspielungen auf Todesvorstellungen gebildet wird, wird dann mit dem eigenen Tode Aschenbachs vollendet. Die zunehmende Sicherheit, daß Aschenbach unmittelbar vor dem Tode steht, wird dem Leser eindeutig vorausgesagt, nichtsdestoweniger wirkt die Steigerung der Todesbilder so, daß der eigentliche Höhepunkt der Geschichte erst auf der letzten Seite erreicht wird. Durch die mythologische sowohl wie die symbolische Andeutungen auf den Tod wird der Leser dann vorbereitet, das Ende der Novelle anzunehmen und als bedeutsam anzuerkennen.
Written and © Nancy Thuleen in 1992 during a semester at the Philipps-Universität Marburg.
If needed, cite using something like the following: Thuleen, Nancy. "Todesfiguren und Motive in Thomas Manns Tod in Venedig." Website Article. 25 June 1992. <http://www.nthuleen.com/papers/MMann.html>.
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