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Die Geschwister in den Schillerdramen Die Räuber und Maria Stuart

Das erste erfolgreiche Drama Schillers, Die Räuber , stellt ein Brüderpaar dar, das sehr ähnlich zu dem Schwesterpaar des späteren Trauerspiels Maria Stuart aussieht. In den Räubern sehen wir einen innerlich guten Bruder, Karl Moor, der trotz seines guten Gewissens Verbrechen, Mord, und Dieberei begeht, und seinen Bruder Franz, der äußerlich und öffentlich keine Missetaten begeht, der aber heimlich versucht, seinen eigenen Vater zu töten, nur um seinen Sitz als Graf zu übernehmen. In Maria Stuart gibt es ein ähnliches Bild: die "gute" Königin Elisabeth, die ihre Jungfräulichkeit und ihr Königreich aufrechterhalten will, läßt ihre adlige Schwester Maria, die einen Anspruch auf den Thron hat, hingerichtet werden. In beiden Fällen haben wir jedoch eine tiefere Ebene unterhalb der Handlung; das heißt, daß die Bilder dieser Geschwister gar nicht eindeutig sind, sondern eher zweiseitig und kompliziert. Erstens gibt es die Unterschiede zwischen innerlicher und äußerlicher Güte, und die Frage nach der Bestimmung des Begriffs des Guten; zweitens aber gibt es weitere Ähnlichkeiten wie die Verhältnisse der Geschwister, die Demütigung, der beide Helden unterworfen sind, und die Tugenden, männlich oder weiblich, die beide besitzen. Auf jeden Fall haben die Figuren dieser Dramen viele Gemeinsamkeiten, die weitere Besprechung verdienen.

Die offenbarste Ähnlichkeit, die die beiden Paaren teilen, besteht aus ihren komplexen Gestalten, die weder gut noch böse genannt werden können. Niemand hat hier völlig recht: Karl ist zwar ein Verbrecher, aber man könnte behaupten, daß die Treue und Liebe seiner Familie und Amalien zeigen, daß er ein echt "guter" Mensch ist. Franz, auf der anderen Seite, ist äußerlich ein guter Sohn und will auch ein guter Herrscher sein, aber sein Neid auf Karl und sein dringendes Bedürfnis der Selbstwürde zwingen ihn, seinen eigenen Vater zu verraten und alles in seinem Versuch zu riskieren. Aber wer ist hier schuldig? Die Frage ist schwierig, weil Schiller uns wenige Kriterien gibt, nach denen wir die Taten seiner Helden beurteilen können. Doch haben wir einige: obwohl man nicht ganz bestimmen kann, woher das Gefühl kommt, hat man eine Idee, daß Karl an seine Taten nicht die Schuld trägt, oder daß er durch seine Güte und Treue rechtfertigt ist, besonders wenn er, am Ende des Stückes, sich der Justiz übergeben will, und zu den anderen Räubern sagt:

 Toren ihr! Zu ewiger Blindheit verdammt! Meinet ihr wohl gar, eine Todsünde werde das Äquivalent gegen Todsünden sein, meinet ihr, die Harmonie der Welt werde durch diesen gottlosen Mißlaut gewinnen? (Wirft ihnen seine Waffen verächtlich vor die Füße.) Er soll mich lebendig haben. Ich geh, mich selbst in die Hände der Justiz zu überliefern. (V. Akt, 2. Szene)


Auf einer ähnlichen Weise wirkt dann die Handlung in Maria Stuart , so daß man unsicher ist, welche von den Schwestern eigentlich schuldig ist und welche nicht. Es ist doch wahr, daß Maria viele Missetaten begangen hat, als sie jünger war, und daß sie den Thron Englands besiegen will, doch scheint sie hier viel mehr Würde und Anmut zu besitzen, als ihre königliche Schwester Elizabeth. Diese, trotz ihres Bestehens auf der Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit und weiblicher Tugend, wird neidisch, höhnisch, zynisch, und gemein in ihren Handlungen gegen Maria. Als die zwei sich endlich einander treffen, wird es den Leser klar, wer hier die tragische Heldin des Stückes ist: zuerst versucht Maria, ihre Stolz zu unterdrücken, doch ist sie es nicht fähig, des Hasses Elizabeths wegen, und sie muß zugeben, daß sie Elizabeths Unbarmherzigkeit nicht mehr leiden kann:

 MARIA: Ich habe
Ertragen, was ein Mensch ertragen kann.
Fahr hin, lammherzige Gelassenheit,
Zum Himmel fliehe, leidende Geduld,
Spreng endlich deine Bande, tritt hervor
Aus deiner Höhle, langverhaltner Groll -
Und du, der dem gereizten Basilisk
Den Mordblick gab, leg auf die Zunge mir
Den gift'gen Pfeil -
(Z. 2435-2443)


Obwohl es diese Unsicherheiten über die Verurteilung der Figuren gibt, können wir trotzdem sehen, daß Maria am Ende der Geschichte ihre irdischen Sünden und Kummer völlig überwunden hat; sie stirbt als eine, die schon des irdischen Lebens müde ist, und geht friedlich ihrem Tod entgegen. Sie trifft die Justiz, die ihre Taten beurteilen wird, genau wie Karl Moor sich der Justiz übergibt, um beurteilt zu werden.

Die zweiten Hälften dieser Paaren treffen aber andere Enden: Franz wird für seine Sünden mit dem Tode bestraft, und zwar durch Selbstmord, weil er es nicht fähig ist, seine eigene Taten ins Gesicht zu schauen. Elisabeth aber büßt für ihre Sünden mit dem fortgesetzten Leben, allein und mit dem Kenntnis ihrer Handlung auf dem Gewissen. Sie scheint hier stärker als Franz zu sein, und zwingt sich, angesichts Verrat und Verlust, aufrecht zu bleiben, als wir in den letzten Bühnenanweisungen sehen, nachdem sie von dem Verrat Leicesters lernt: "Sie bezwingt sich und steht mit ruhiger Fassung da. Der Vorhang fällt."

Andere Ähnlichkeiten zwischen den zwei Paaren tauchen in den Verhältnissen der Geschwister zu einander auf. Die Liebe hier wirkt als das entscheidende Thema in dieser Frage. Karl Moor, als wir vom dem echt "guten" Bruder erwarten, liebt vollkommen seinen Bruder Franz. Das sehen wir schon im ersten Akt, als er den Brief von Franz bekommt, in dem dieser lügnerisch von dem Verstoßen Karls durch den Vater berichtet. Karl glaubt es seinem Bruder; er will auf ihn nicht schelten, sondern auf den Vater, als er sagt:

 Weg, weg von mir! Ist dein Name nicht Mensch? Hat dich das Weib nicht geboren? - Aus meinen Augen, du mit dem Menschengesicht! - Ich hab ihn so unaussprechlich geliebt! So liebte ihn kein Sohn, ich hätte tausend Leben für ihn - (Schäumend auf die Erde stampfend.) ... (I. Akt, 2. Szene)


Die Maria Stuart liebt auch ihre Schwester; wenn sie schon manchmal ein bißchen zynisch über sie spricht, glaubt sie wenigstens, Gutes von ihr erwarten zu können. Sie bittet, sagt sie, um

 eine große Gunst -
Um eine Unterredung mit ihr selbst,
Die ich mit Augen nie gesehen - Man hat mich
Vor ein Gericht von Männern vorgefordert,
Die ich als meinesgleichen nicht erkennen,
Zu denen ich kein Herz mir fassen kann.
Elisabeth ist meines Stammes, meines
Geschlechts und Ranges - Ihr allein, der Schwester,
Der Königin, der Frau kann ich mich öffnen.
(Z. 168-176)


Die anderen Figuren dieser Dramen scheinen aber nicht so wohlgesinnt gegenüber ihren Geschwistern zu stehen. Der Franz ist offensichtlich dem Karl feindselig, und zwar versucht er, alles zu tun, was den Karl möglicherweise schaden könnte. Er ist hier fast das Vorbild eines neidischen und vernachlässigten Sohnes, der seinen Bruder nicht als Bruder anerkennt. Elisabeth, glaubt man am Anfang, soll wenigstens nicht gemein sein, doch erscheint es, daß sie wirklich so viel Neid und Haß gegen ihren Thronanwärter hat, daß sie ihre eigene Schwester nicht lieben kann.

Die Handlungen der zwei Dramen sind, trotz ihrer anscheinenden Unterschiede, ziemlich nah an einander, wenigstens vom Gefühl her. Die Auseinandersetzung, die Maria mit Elisabeth hat, zeigt uns viele Elemente in ihren Charakteren. Maria will sich vor Elisabeth demütigen, jedoch kann sie nicht. Doch gewinnt sie in der Tat; im Vergleich zur Elisabeth, die sich als neidische, strenge, und kämpferische Königin herausstellt, ist Maria hier die sanfte, doch mutige und innerlich starke Heldin, die ihr Urteil mit Gelassenheit und Würde empfängt. Das hat zu der Lage in den Räubern eigentlich viele Ähnlichkeiten. Zwar haben Karl und Franz nie eine echte Konfrontation, aber von den hinterliegenden Charakteren der Figuren können wir wichtige Schlußfolgerungen herausziehen. Karl, der alles wegen der Verhandlungen seines Bruders verloren hat, scheint eigentlich nicht rachsüchtig oder sogar sehr böse auf Franz zu sein; stattdessen will er ihn erst töten, als er herausfindet, was er zu seinem eigenen Vater getan hat. Franz, der andererseits seinen Bruder haßt und niederschlagen will, sucht immer, bis aufs Ende, seinen eigenen Vorteil zu fördern. Nur, als er endlich einsieht, daß seine Taten zu nichts geführt haben, will er Selbstmord begehen, weil er seinen eigenen Fehlschlag nicht anerkennen kann.

Durch die Ergebnisse dieser zwei Dramen kommen auch einige andere Ähnlichkeiten zwischen den Helden hervor. Am wichtigsten hier ist, daß beide Maria und Karl nicht in ihren richtigen Geschlechtsrollen sich verhalten. Die Maria, die zwar eine typische Frau genannt werden könnte, aufgrund ihrer verführerischen Instinkte und ihrer Koketterie, ist jedoch nicht als solche in dem Drama dargestellt. Im Gegenteil ist sie hier eigenwillig, stark, und unabhängig, was normalerweise eher als männliche Züge gesehen werden. Auch Karl, der Räuber, hat manche Merkmale, die traditionell zu der Rolle der Frau passen: er spürt eine tiefe Liebe zu Amalien, er ist seiner Familie und seinen Pflichten treu, und er zeigt leicht seine Gefühle. Elisabeth und Franz scheinen andererseits tugendhaft zu sein, sind aber in der Tat nicht, weil sie unmoralische und unsittliche Verhandlungen begehen.

Die Liebe spielt in beiden dieser Dramen eine wichtige Rolle: sie ist, könnte man sagen, die Ursache für viele der Probleme in den Handlungen. Auch sind die Lieben der Figuren hier auf einer ähnlichen Weise charakterisiert: Karl wird von Amalien geliebt, während Maria auch von vielen, aber hauptsächlich von dem jungen Mortimer geliebt wird. Franz wird in Kontrast von vielen gehaßt und von niemandem richtig geliebt, genau wie Elisabeth, die freilich viele Kurtisanen hat, aber auch von niemandem geliebt wird - oder nur aus Hoffnung geworben, denn sie bietet eine große Mitgift (den Thron Englands) als Königin. In diesem Sinne und auch in anderen können die Figuren dieser Dramen als Außenseiter der Liebe gesehen werden.

Die letzte und vielleicht wichtigste Ähnlichkeit zwischen den zwei Dramen liegt in ihrem Verhältnis zu den biblischen Parabeln. Die Räuber , wie viele Kritiker schon bemerkt haben, liegt sehr nah an der Parabel des verlorenen Sohnes, in dem Sinne, daß Karl als Sohn weggeht aber am Ende wieder mit dem Vater versöhnt wird. Diese Ähnlichkeiten dringen sich eigentlich noch tiefer, wenn man das Verhältnis der zwei Brüder berücksichtigt; der jüngere Sohn, wie in dem Gleichnis, ist neidisch und mißgünstig des älteren, und will seinen Teil der Erbe besitzen. Auch hat die Maria Stuart eine Verbindung zu der Bibel, da Maria als Märtyrerin dargestellt wird. Sie ist zwar nicht als eine Christfigur präsentiert, denn sie nicht völlig unschuldig oder heilig erscheint, aber sie ist vielleicht eher dem Sebastian ähnlich, der von seinen Feinden aus Haß und Furcht umgebracht wurde, obwohl er sie wirklich nicht geschadet hatte. Auch sehen wir hier den Namen Maria als eine mögliche Anspielung auf die Mutter des Jesus, oder, was viel wahrscheinlicher ist, auf die Maria Magdalene, die eine Sünderin war, aber der ihre Sünde alle vergeben wurden, weil sie ihr Schuld anerkannte und dafür büßte.

Die Unterschiede in diesen zwei Dramen sind dann unheimlich groß, aber man kann trotzdem sehen, daß sie ziemlich viele Ähnlichkeiten auch zeigen. In der Bestimmung des Begriffs des Guten zeigt sich eine problematische Frage, die wir anhand der Auskunft, die die Geschichte selbst uns gibt, lösen können. Auch in den Auslösungen der Dramen tauchen diese Ähnlichkeiten wieder auf, denn die Helden fast die gleichen Enden treffen. Beide Helden geben dann ihre Hoffnungen auf irdisches Glück auf, und begreifen am Ende, als sie angesichts ihres Todes stehen, das Wichtigste.





Written and © Nancy Thuleen in 1992 during a semester at the Philipps-Universität Marburg.

If needed, cite using something like the following:
Thuleen, Nancy. "Die Geschwister in den Schillerdramen Die Räuber und Maria Stuart." Website Article. 26 June 1992. <http://www.nthuleen.com/papers/MSchiller.html>.