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Funktionen des Erzählens

 What do you want a poet for?    --    To save the City, of course.
                    Aristophanes, The Frogs


Erzählen hat offenbar eine integrale Funktion innerhalb der menschlichen Kultur, denn, egal wie 'avanciert' oder 'primitiv' eine kulturelle Gemeinschaft sein mag, hat sie immer Erzählungen und Erzählformen, die sich auch mit denen anderer Gemeinschaften vergleichen lassen. Diese Funktion, oder besser gesagt diese Leistungen des Erzählens -- denn sie sind ja mehrfach -- sind aber schwer erklärbar: man kann für solch ein allgemein menschliches Phänomen kaum Worte finden, die nicht wieder in Verwirrung führen. Auch erliege man leicht der Versuchung, bloß eine Aufzählung erzählerischer Funktionen zu liefern, oder auch eine von bestimmten Strömungen der Literatur- bzw. Erzählforschung beeinflußte Auslegung, die dann doch ohne weiteren Bezug bleibt. Immerhin sollte es möglich sein, eine kurze Besprechung des Themas so aufzustellen, daß man auch textuelle Belege und Beispiele findet, um erzählerische Leistungen zu veranschaulichen.

Daß alle menschliche Kulturen auf irgendeine Weise Erzählen beweisen, spricht dafür, daß die anthropologische Leistung von Erzählen wichtig vielleicht sogar nötig ist. Allgemein gesprochen vermittelt man kulturelle Werte und Traditionen durch Erzählen: grundlegende Informationen, die eine Kultur von einer anderen unterscheiden, können in ihren Erzählungen gesehen werden. Wenn man sich die Frage stellt, wie eine Kultur ohne Erzählungen (d.h. ohne Mythen, Fabeln, Sagen, und auch ganz alltägliche Geschichten) wohl aussehen würde, scheint es klar: man hätte sehr wenig Auskunft über auch die banalsten gesellschaftlichen Haltungen und Themen; man könnte sogar behaupten, eine Gesellschaft ohne Erzählung sei doch keine Kultur, denn es fehlten die Verbindungen und Basen, die eine Kultur überhaupt erst bestimmen.

Die narrative Gattung, die sich am besten für Vermittlung von kulturellen Werten eignet, ist also der Mythos, die Grundform der meisten kulturellgeschichtlichen Erzählungen. Der Mythos hat neben der Wertübertragung aber gleichzeitig eine zweite Funktion, die eng damit verbunden wird: die ontologische, sozusagen "erklärerische" Funktion, die kulturelle Annahmen über sonst unerklärte Ereignisse und Zustände in einer narrativen Form auslegt und verbildlicht. Wenigstens in seinen Anfängen hat der Mythos sowohl eine erklärende als auch eine zusammenhaltende Funktion in der Kultur; als aber allgemeine Werte und Verhältnisse sich ändern, nimmt der Mythos, und wohl das Erzählen überhaupt, auch historische und erzieherische Aspekte an. Die griechischen Mythen enthalten zum Beispiel für moderne Hörer keine Erklärungen von Naturerscheinungen oder Weltentstehungsfragen; sie sind vielmehr die Träger von kultureller Geschichte, und sie stellen eine Verbindung her zwischen der modernen "westlichen" Welt und der antiken Welt, die sie erfand -- was auch ein Basis der kulturellen Differenzierung ist, und erklärt, warum wir immer noch Freude an diesen alten Erzählungen haben können, obwohl sie ihre "mythische" Funktion längst verloren haben.

Sicherlich gehört aber auch Unterhaltung zu den Leistungen des Erzählens, und zwar auf eine Art und Weise, die die Bedeutung triviales "Entertainment" weitaus übersteigt; denn in dem Moment, wo jemand etwas erzählt, entsteht eine große Anzahl von Voraussetzungen. Erstens auf einer rein kommunikativen Ebene wird eine Verbindung aufgestellt, die sich auf menschliche Erfahrungen und Fähigkeiten stützt: man nimmt also an, daß das, was erzählt wird, dem Hörer verständlich sein wird, sowohl sprachlich und sinngemäß als auch logisch und erfahrungsgemäß. Das heißt, der Hörer muß schon vieles mit dem Erzähler gemeinsam haben, um überhaupt die Erzählsituation zu ermöglichen. Indem diese Verbindung aber erst in dem Moment des Erzählens zum Vorschein kommt, kann man also sagen, daß Erzählen selbst eine kommunikative und vereinigende Funktion hat, daß es also Beziehungen zwischen Menschen schafft, um weiter dann Informationen, Erfahrungen, Gedanken oder Emotionen zu vermitteln.

Diese Erzählsituation beruht aber offenbar auf einem Vertrauen in die Sprache: wenn eine Erzählung in einer unbekannten Fremdsprache schon unverständlich ist, ist dann eine Erzählung ohne Sprache kaum vorstellbar. Bedenkt man aber, daß die Sprache selbst ihre Schwäche habe, indem sie menschliche Erfahrungen nicht direkt reproduzieren läßt, sondern nur zweiterhand, d.h. durch Semiotisierung wiedergibt, dann kommt man, besonders als Erzähler/Autor, in Verlegenheit. Dieser Mangel an Vertrauen zu der Sprache wird nicht selten zu einem Thema in der modernen Literatur -- wobei ich nicht weiß, ob auch ältere Literatur, z.B. die der Antike, auch nicht solche Themen aufgenommen hat -- und selbst dann in Frage gestellt, weil es eben problematisch ist, die Unzuverlässigkeit der Sprache in dem Medium der Sprache zu diskutieren. Hugo von Hofmannsthal ist wohl das Hauptbeispiel für eine solche Thematisierung; auch aber in anderen, weniger metasprachlichen Texten kann dies auch als Thema vorkommen, wie in Elisabeth Langgässer's Kurzgeschichte "Glück haben." Hier geht es weniger um ein Mißtrauen der Sprache gegenüber, sondern um einen Zweifel an der Möglichkeit der Erzählsituation selbst, und um das Unbehagen, das man spürt, in Fällen der mißlungenen oder unerwünschten Erzählhaltung. "Aber hier war die Sache anders," beschreibt die Erzählerin, die eine scheinbar Wannsinnige erzählen hört: "Man bekam nichts erzählt; man hörte da etwas, was im Grunde nicht für einen bestimmt war." [1] Daß die Erzählerin selbst am Ende im Irrenhaus bleiben muß, scheint mir kein Zufall zu sein, denn wenn die Herstellung einer Verbindung zwischen Erzähler und Hörer als Voraussetzung für die Erzählsituation gilt, was könnte man sonst tun, um eine Wahnsinnige zuzuhören?

So ergibt sich dann eine weitere Leistung des Erzählens: die Widerspiegelung eines Weltbildes, und zwar insofern als der Erzähler dieses Weltbild unbedingt in die Form und in den Inhalt seiner Erzählung aufnehmen muß. Sogar die Anordnung der Narration entspricht nötigerweise der Vorstellung des Erzählers, wie seine Welt aufgebaut sei und was für eine Logik sie bestimme. Von daher muß man also, um ein präzises Verständnis des Erzählers zu erhalten, nicht nur die Struktur einer Erzählung in Betracht ziehen, aber auch den Inhalt. Hier gehören dann solche Begriffe wie "Totalität" oder "Ganzheit," die in der Literatur- und Erzählforschung des 20. Jahrhunderts eine große Rolle gespielt haben: wenn, wie schon Hegel, Lukacs, und viele andere meinen, das "selige" oder heile Zeitalter vorbei ist, und jetzt nur zerrissene, moderne Zustände herrschen, müßte diese Lage sich auch in der Literatur widerspiegeln. Da aber dieser Zwiespalt sich überwinden läßt, indem man die Illusion einer Totalität innerhalb einer fiktionalen Erzählung aufbauen kann, haben die modernen Erzählformen auch die Aufgabe, diese "Gesinnung zur Totalität" aufrechtzuerhalten.

Diese unzerrissene Ganzheit ist aber nur in der Fiktion möglich; und da die Fiktion wie wohl alles Erzählen pro forma eine höchst subjektive Leistung ist, ist sogar die Totalität (oder Mangel daran), die aufgestellt wird, eine sehr persönliche Vorstellung. Das führt dazu, daß es zwischen dem Erzähler-Autor, der sein subjektives Weltbild in die Fiktion überträgt, und dem Hörer, der sich diesem fremden Weltbild aneignen muß, manchmal eines Vermittlers bedarf, was wir dann in der Person des (expliziten oder impliziten) Erzählers finden. In Günter Grass' Katz und Maus wird z.B. die Geschichte nicht von Grass selbst, auch nicht als autorialer Erzähler, erzählt, sondern von dem expliziten Erzähler Pilenz, der die Rolle eines "middleman" zwischen dem Leser und dem Schöpfer spielt, und Sachen auf eine Weise darstellen läßt, die die Fiktionalität dieses Werkes direkt thematisiert. Wenn Pilenz als Erzähler (aber nicht Autor!) sagt, er nenne "das Wetter sommerlich und anhaltend schön" und lasse Mahlkes Haut "feinkörnig bis graupelig werden," [2] so bricht er auf einmal sowohl die Illusion einer realen "Geschichte" hinter dieser Erzählung als auch die Illusion der autorialen Macht; als Leser können wir Pilenz' Unsicherheit teilen, ohne daß wir an Grass' Zuverlässigkeit zweifeln müssen.

Es wäre sinnlos, darauf zu bestehen, daß es nur eine Funktion des Erzählens gäbe, denn in der Tat gibt es unzählig mehr, die im Rahmen einer so begrenzten Behandlung nicht angesprochen werden können. Was aber möglicherweise noch hinter allen anderen Leistungen des Erzählens zugrunde liegen könnte, ist die einfache Freude der Schöpfung. Als Erzähler, Autor, Dichter, oder sonst was spielt man 'den kleinen Gott': man hat nicht nur die Macht, die Umgebung und Handlung einer Erzählung bestimmen zu können, aber auch die Charaktere und Persönlichkeiten selbst; auch als Leser kann man Freude haben an den Einzelheiten der Schöpfung und an der stilistischen Geschicktheit des Erzählers. Daß die Erzählung eine sprachliche Kunst ist, setzt also auch voraus, daß man Freude an der Sprache haben kann und soll: rhetorische Stilmittel, bildhafte Stellen, und visionäres Beschreiben tragen unmittelbar zu diesem Vergnügen bei. Es ist kein Zufall, daß man gelungene Erzählungen "schön" nennt -- in solchen Erzählungen werden Weltanschauungen wie auch Sichtweisen vermittelt, verwirklicht, und schließlich verbunden.



Zitate:

(1)  Elisabeth Langgässer, "Glück haben." In: Erzählte Zeit: 50 deutsche Kurzgeschichten der Gegenwart, hrsg. Manfred Durzak. (Stuttgart: Reclam, 1980) S. 205. [return to text]
(2)  Günter Grass, Katz und Maus (Göttingen: Steidl Verlag / DTV, 1993) S. 6. [return to text]





Written and © Nancy Thuleen in 1996 for German 636 at the University of Wisconsin-Madison.

If needed, cite using something like the following:
Thuleen, Nancy. "Funktionen des Erzählens." Website Article. 7 March 1996. <http://www.nthuleen.com/papers/636Erzaehlen.html>.