I. Historischer Hintergrund, Dramengeschichte
Als Einführung in seine Analyse stellt Lenz eine Aufteilung der bisherigen Dramengeschichte vor: er teilt das europäische Theater in fünf Departements auf, und beschreibt sie, eins nach dem anderen.
Das erste Departement ist das griechische. Lenz spricht sehr wenig hiervon, und erwähnt nur, daß die großen Meisterstücke von eben so großen Meistern in der Aktion vorgestellt wurden.
Im zweiten Departement, dem lateinischen / römischen, erwähnt Lenz für die Gattung der Trauerspiele die Meister Ovid und Seneca, und für die Komödie also Terenz und Plautus. Lenz behauptet hier auch, daß das ursprüngliche Schauspiel bei den Alten wohl ein "Lobgesang auf den Vater Bacchus" war, und deswegen höchstwahrscheinlich gesungen, nicht wie heute. Die Ausschweifungen von der Natur in den Dramen der Alten waren damals notwendig, behauptet Lenz, weil die Zuschauer so viele und so unruhig waren -- die Schauspieler mußten z.B. laut reden, obwohl sie gleich nebeneinander standen, und es war auch hilfreich, daß sie Masken trugen.
Das dritte Departement nach Lenz ist das italienische, aber hiervon sagt Lenz eigentlich gar nichts, außer einer Erwähnung von Orpheus und dem dreiköpfigen Cerberus.
Die vierte Abteilung ist dann die französische. Hier meint Lenz spöttisch, daß die französischen Dramen ein schönes Spielewerk sei, da die alten klassischen Helden nun "sauber frisiert in Haarbeutel und seidenen Strümpfen" erscheinen. Er sagt auch sarkastisch, es gibt schon so viele Meister in dem Departement, er kann gar nicht anfangen, sie aufzulisten. "In diesem Departement ist Amor Selbstherrscher, alles atmet, seufzt, weint, blutet ihn ..." meint er auch.
Als fünftes Department beschreibt Lenz das englische Theater. Es sei die umgekehrte Seite von der französischen, obwohl die Engländer manchmal auch barbarisch geworden sind, besonders ein bestimmter Garrick, der viele Shakespeare-Darstellungen vorgeführt hat. Hier sagt Lenz noch wenig von Shakespeares Dramen selbst: dazu kommen wir erst später.
Nach diesen Departements kommt Lenz zu Deutschland. Er sieht hier "ein wunderbares Gemenge alles dessen, was wir bisher gesehen haben." Sarkastisch fragt er denn, "Was wollen wir mehr?" Das moderne Theater muß noch verändert werden, meint er, aber nicht durch Regelung, wie schon passiert ist, da jetzt "der Ton [des Theaters] so wenig deutsch, so kritisch bebend, geraten schön" ist.
Es ist den Lesern jetzt klar geworden, daß Lenz eine Kritik an der damaligen Bühne schreibt, doch trotzdem will Lenz seinen Endzweck noch nicht verraten. Man soll selber seine Schlüsse ziehen, meint er.
II. Das Wesen der Poesie
Als nächste fängt Lenz an, über das Wesen der Poesie zu diskutieren, was ihre Quellen und Merkmale sind. Er erklärt, daß das Wesen der Poesie die Nachahmung der Natur ist. Daher kommt für uns ihren Reiz, weil jeder auf irgendeine Weise Gott nachahmen will. Lenz beruft sich auch auf Aristoteles, der gesagt hat: "Der Mensch ist ein Tier, das vorzüglich geschickt ist, nachzuahmen." Da wir uns aber mit den Dingen, die wir um uns haben, begnügen müssen, ist die Poesie die beste Gelegenheit, diesen Trieb zu befriedigen. Den Dichter sieht Lenz also als kleine Gott, der die Natur in der Poesie widerspiegeln kann. Wie aber diese Natur im Drama denn aussieht, ist eine andere Sache, und dazu kommen wir bald.
Aristoteles, schreibt Lenz, spricht von zwei Quellen der Poesie; er erklärt aber nur die eine, das ist, diesen Trieb nachzuahmen. Was die zweite Quelle ist, will Lenz zunächst ausarbeiten. Wir ahmen nach, sagt Lenz, aus dem Grund, daß wir "mit einem Blick durch die innerste Natur aller Wesen dringen" möchten; wir wollen "Brücken" bauen, damit wir unsere Welt ganz verstehen können, auch die Verbindungen, die nicht gerade offensichtlich sind. Wir kriegen durch unsere fünf Sinne eine ganze Menge Eindrücke, die wir nicht miteinander verknüpfen können. Um diese "zusammengesetzte Begriffe in einfache zu reduzieren" (wie es Lenz schreibt), benutzen wir die Poesie. Sie hat also die Funktion, "all unsere gesammelten Begriffe wieder auseinander zu wickeln und durchzuschauen, sie anschaulich und gegenwärtig zu machen." Das ist also die zweite Quelle der Poesie, die der ersten logisch vorausgeht: dieses Streben nach einer Erkenntnis, die uns die Welt durch Anschauen verständlich macht.
Deshalb schreibt der Dichter. Doch jeder könnte so schreiben, und es würde nicht Poesie heißen -- dazu muß noch was anders hinzukommen, nämlich Genie.
III. Verwerfung der drei Einheiten
Das Genie, wie Shakespeare, muß also nicht nach Regeln fragen, und deshalb müssen wir sogar den Rat Aristoteles' doch in Frage stellen. Hier kommt Lenz zu seiner stärksten Erklärung im ganzen Werk: er will "die so erschröckliche jämmerlichberühmte Bulle von den drei Einheiten" nun endgültig wegschaffen. Warum soll es eigentlich drei Einheiten geben, fragt er? Wir suchen doch nur eine Erkenntnis, diese Brücke, diese Verknüpfung, die wir haben muß, um die Welt uns anschaulich oder verständlich zu machen, und dazu brauchen wir diese sogenannten Einheiten nicht!
Warum soll man sich in einem Haus oder zu einem Tag beschränken -- "welch ein größer und göttlicher Vergnügen, die Bewegung einer Welt, als eines Hauses!" Es ist doch der Sinn der Sache, alles anzuschauen, und alles zu erleben, und deshalb soll man sich nicht einschränken.
Wenn wir diesen Einheiten folgen, wie man in Vergangenheit es gewohnt war, wird alles nur dasselbe. Als Dichter muß man also die eine Einheit, diese Suche nach Erkenntnis, "fühlen aber nicht klassifizieren." Lenz will hier keine Regeln angeben, er will sogar, daß man Regeln vermeidet, doch trotzdem sieht er: man muß die Sache irgendwie beschreiben, worauf er hinauswill. Deshalb schreibt er jetzt in Detail über jede aristotelische Einheit .
Die Einheit der Handlung, meint Lenz, ist sinnlos: man soll schon eine Geschichte vorstellen, aber sie kann doch beliebig so viele Handlungen haben, und uns aber immer noch nicht verwirren. Aristoteles hat das ganz anders gesehen, da er die Handlung und die Hauptperson als völlig getrennte Sachen angesehen hat; doch, meint Lenz, die beiden gehören zusammen. Der Dichter soll lieber eine ganze "Reihe von Handlungen, die wie Donnerschläge auf einander folgen," vorführen. Wir wollen nicht mehr die faden, abgerissenen Handlungen der Griechen sehen, weil sie uns nicht mehr passen: wir wollen den Menschen sehen, und alles, was dazu gehört. Das heißt, diese mannigfaltigen Handlungen werden in ein großes Ganze fließen, und dadurch kann man viel besser zu einer wahren Erkenntnis kommen, als wenn man nur eine kleine Seite sieht.
Auch mit der Einheit des Ortes setzt sich Lenz heftig auseinander; er meint, es war schon bei den Alten ein Unsinn, und heutzutage noch mehr so. Bei den Alten kamen die Leute "wie gerufen und gebeten" herbei; man mußte sich immer was ausdenken, als Grund, warum sie überhaupt da waren. Dazu war auch der Chor da; weil wir aber jetzt keinen Chor haben, können wir ganz frei die Szene wechseln, um die Gegenwart der Personen verständlich zu machen.
Die Einheit der Zeit war für Aristoteles besonders wichtig, weil sie für ihn der wesentliche Unterschied zwischen einem Trauerspiel und einer Heldendichtung (einer Epopee) repräsentiert. Aristoteles' Regel stellt fest, daß das Trauerspiel nur den Umlauf einer Sonne dauern soll, wobei die Epopee "unbestimmte Zeit" dauern kann. Lenz findet da aber Probleme, da er sagt, 10 Jahre sind doch auch eine bestimmte Zeit. Er sieht diesen Unterschied dann zwischen Heldendichtung und Tragödie in einem ganz anderen Grund, nämlich, wie er sagt: "die Tragödie stellt vor, das Heldengedicht erzählt." Also kann die moderne Tragödie beliebig viele Stunden oder Tage dauern, solange sie der Form nach ein Trauerspiel bleibt.
Unterschied zwischen Epik und Drama
Von hier bricht Lenz in einer Besprechung aus, die nicht völlig zum Thema gehört: er will den Unterschied zwischen Epik und Drama näher bestimmen. Besonders merkt er diesen Unterschied in der Rezeption des Lesers oder Zuschauers: wenn man liest, meint er, "dringen Millionen unberufene Gedanken" herein, und man kann sich nicht so sehr auf das Wichtige konzentrieren. Das Drama bietet aber im Gegenteil eine "lebendige Vorstellung der tausend großen Einzelheiten, ihrer Verbindungen, ihres göttlichen ganzen Eindrucks." Das führt also dazu, daß die Erkenntnis, die man in der Poesie sucht, wesentlich leichter beim Drama zu finden ist, deshalb zieht Lenz diese Form der Poesie auch vor.
Wie kann aber der Schauspieldichter erfolgreich sein? Lenz antwortet darauf, daß der Dichter "sichere Hand" haben, "in der Puls der Natur schlagen", und "vom göttlichen Genius geführt" werden muß.
Kritik an der französischen Theaterbühne
Nach seiner heftigen Kritik an den aristotelischen Regeln wendet sich Lenz gegen die Franzosen. Seine Tirade gegen die klassisistischen Vorbilder fängt mit der Bemerkung an, daß alle anderen europäischen Länder Meister haben, die nicht blind den aristotelischen Vorschriften folgten. Die Italiener haben Dante, schreibt er, wobei er hinzufügt, daß er in der Divina Commedia, die eigentlich ein Gedicht ist, überall Theater sieht. Also, die Engländer haben Shakespeare, und die Deutschen Klopstock, wen aber haben die Franzosen? "Es gibt nirgend in der Welt so grübelnde Beobachter der drei Einheiten," meint Lenz. Er ärgert sich besonders darüber, daß die Franzosen die Charaktere in einem Drama nur "zur Nebensache" machen, statt Menschen auf die Bühne zu bringen. Deshalb müssen die deutschen Dichter sich nicht an französischen Vorbildern orientieren, und auch nicht an Aristoteles.
Woran soll man sich denn orientieren, fragt er, und seine Antwort darauf ist sehr klar: lieber sollen wir "die Natur Baumeisterin sein [...] lassen." Die Franzosen haben das nicht gemacht, und deshalb sind sie gescheitert. Ihre Schauspielen sind alle gleich, weil sie keine richtige Widerspiegelung der Mannigfaltigkeit der Natur sind; sie erzählen immer die gleiche Geschichte, meint er. Lenz gibt nun zu, daß das Handwerk (d.h. das Schauspiel) zwar einfach ist, im Vergleich zu der Schöpfung Gottes, aber es ist eben die Aufgabe des Genies, die "Natur in allen ihren Wirkungen mannigfaltig" zu widerspiegeln. Man soll sich also nicht fürchten, die Dämme hochzuziehen, die Grenzen weitzustecken, es wird einem in der Tat helfen, wenn man sich nicht einschränkt.
Auch muß der Dichter zu der Fabel "seine eigene Gemütsverfassung" als Grund unterlegen. Das heißt, in jedem Charakter steckt ein Bißchen von der eigenen Persönlichkeit des Dichters - dafür gibt Lenz die Beispiele von Voltaires "lauter tolerante Freigeister" und Corneilles "lauter Senecas" an. Wenn der Dichter es richtig macht, wird "sein ganzes Schauspiel ein Gemälde seiner eigenen Seele." Also, wenn der Dichter Witz hat, wird er sein Drama mit Witz beglücken, wenn er aber ausgetrocknet ist, wird sein Drama fade erscheinen, und wenn es ihm an allen fehlt, fügt Lenz leicht ironisch dazu, "nimmt er seine Zuflucht zu dem französischen Charakter."
Shakespeare und Voltaire
Um diese Argumente über die französischen Bühne zu illustrieren, macht Lenz einen kleinen Vergleich zwischen Shakespeare und Voltaire. Er nimmt Shakespeares Julius Cäsar und Voltaires La mort de César, die sich beide mit dem Thema des Mordes an Cäsar beschäftigen. Lenz macht die Bemerkung, daß er keine ausführliche Parallele auslegen will, sondern er nimmt in beiden Stücken die selbe Szene, um zu zeigen, worin der Unterschied liegt.
Bei Shakespeare bewundert Lenz das Geschick des Dichters, als er Brutus darstellt, wie er denkt, philosophiert, mit sich redet, und überlegt, wie der Mord wohl gehen wird. Die ganze Zeit hindurch, meint Lenz, "präambuliert die ganze Natur der bevorstehenden Symphonie seiner Gemütsbewegungen." Auch findet Lenz es bewundernswert, wie noch andere Elemente der Welt von Brutus ins Spiel gesetzt werden: wie andere Charaktere auch eine Rolle in seinem Entschluß spielen, oder wie sie mit vollen Emotionen dargestellt werden. Kurz sagt er, das kann man nicht beschreiben, es "läßt sich nicht zerstücken," aber auf allen Fällen weiß Shakespeare, wie man einen Menschen auf der Bühne vorstellt.
Bei Voltaire sieht es aber ganz anders aus, meint Lenz. Lenz findet es unverschämt, wie Voltaire seine Helden immer schwören und predigen läßt, obwohl ihre eigentlichen Gefühle nie so richtig dargestellt werden. Daß Voltaire sich auch mit einem Wortspiel behilft, oder daß die Charaktere sich immer auf historische Begebenheiten in ausführlicher Detail berufen, findet Lenz wirklich schlecht. Der Vergleich ist zwar kurz, meint er denn, aber es reicht, um zu sehen, wie man sich in der Tat nicht an die aristotelischen oder französischen Regeln festbinden muß.
IV. Stil der Anmerkungen
Sicherlich hat jeder bemerkt, daß Lenz' Stil in den Anmerkungen ganz eigenartig ist, und ganz anders, als die Autoren und Werken, die wir bisher gelesen haben. Lenz schreibt in einem höchst rhapsodischen Stil, das heißt, er ist öfters extravagant und enthusiastisch, sogar schwärmerisch, und der Text hat keine regelmäßige Form, keine strenge Ordnung. Lenz gibt halt alles wieder, wie es ihm kommt. Er wechselt öfters zwischen einem analytischen Diskurs und seiner ironisierenden umgangssprachlichen Redeweise. Er hat eine Tendenz zu Ellipsen, wo er wichtige Teile seiner Gedanken nicht äußert, und auch zu Satzabbrüchen, wo er einfach aufhört, mitten im Satz. Ein lustiges Beispiel dafür ist seine Frage an sich "Wollte sagen -- Was wollte ich doch sagen? --" (auf Seite 648). Durch den ganzen Text hat Lenz einen ungewöhnlichen, gehetzten Syntax, was ihm meines Erachtens manchmal schwer zu verstehen macht, aber zugleich einen Reiz ist. Er benutzt eine Menge Metaphern, um seine Punkte deutlicher zu machen, und der ganze Text zeigt sehr viel Bewegung, was hauptsächlich aus dem Stil hervorgeht.
Dieser Stil ist aber kein Zeichen, daß Lenz vielleicht nicht gut schreiben konnte, oder daß er, wie wir wissen, geistig gestört war. Ganz im Gegenteil praktiziert Lenz seine eigenen vorgeschlagenen Methoden, was die Form angeht. Er will eine neue Form hervorrufen, nicht nur des Theaters, aber der Poesie überhaupt, wie wir aus seinen Bemerkungen über das Wesen der Poesie ableiten können. Er übt damit auch Kritik an den alten orthodoxen philosophischen Werken: statt deren steifen, ordnungsgemäßen Stils, will er es beweisen, daß man auch als "Dilettant", wie er sich nennt, einen wichtigen Beitrag zu der analytischen Literatur geben kann. Doch kann er sich nicht völlig von ihren Einfluß befreien, genau wie er sich mit den Zitaten von Aristoteles behelfen muß, um seine neue Theorie überhaupt darstellen zu können. Trotzdem macht Lenz wesentliche Schritte in der Richtung eines neuen analytischen Stils, und betont zugleich seine eigene Theorie des poetischen Wesens.
Written and © Nancy Thuleen in 1994 for German 940 at the University of Wisconsin-Madison.
If needed, cite using something like the following: Thuleen, Nancy. "Referat: Anmerkungen übers Theater von J. M. R. Lenz." Website Article. 3 November 1994. <http://www.nthuleen.com/papers/940lenz.html>.
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