I. Entstehung der Volksliederprojekte
- Andere Liedersammlungen, besonders aus England, dienten als Anregung
- Vergleiche der altdeutschen Barden mit den nordischen Skalden
- Herder ließ Goethe authentische Volkslieder sammeln
- Aufsatz über Ossian: "löste die Volksliederbewegung aus"
- Sammlung: Alte Volkslieder - vier Bände mit Vorreden
- sollte 1774 erscheinen, wurde aber nicht gedruckt
- Vorreden legen Herders Ansichten deutlich aus
- "Von Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst" (1777)
- kritisierte die klassizistischen Maßstäbe für die Poesie
- Sammlung: Volkslieder: zwei Teile (1778/1779)
- viele Lieder aus verschiedenen Ländern
- auch mehrere neugeschriebenen Gedichte, z.B. von Goethe, Claudius
- Rezeption: Nicolai kritisierte Herder
- nach Lessing unterscheide Nicolai zwischen Volk und Pöbel nicht
- Anregung für viele Liedersammlungen, u.a. Des Knaben Wunderhorn
II. Inhalt der Volkslieder-Sammlung
- Herder ließ viele Lieder nicht einbeziehen
- er hatte ganz bestimmte Kriterien und Begriffe, denen er folgte (siehe III.)
- es gab wenige gute Beispiele
- man hatte keine Tradition des Sammelns
- in England war die Lage viel günstiger
- stattdessen fügte er mehrere neuere Dichtungen hinzu, die er auch als "Volkslieder" bezeichnete
- Reihenfolge wurde ganz bewußt bestimmt: soll zum Verständnis dienen
- "entfalten also das Thema des Menschen, sofern er sich mit seinen Verhältnissen gegeben und aufgegeben ist" (G 923)
III. Definition eines herderschen Volksliedes
- VOLK: hat zwei Bestimmungen, beide sind hier wichtig
- (1) Volk als Nation (problematisch)
- (2) Volk als gemeine Menschen (aber nicht Pöbel)
- also: Volk als Idealbegriff
- LIED: nicht nur musikalisch zu verstehen
- hat "Kürze, Wurf, und Gang"
- "Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde..." (H 246)
- "Ton" des Liedes: nicht nur die musikalische Struktur, sondern die Gesamtheit der Eindrücke, "die Seele des Liedes"
- VOLKSLIED:
- "eine von Herder entdeckte oder erfundene Gattung" (G 844)
- "das gemeine Volk liebt sie und die feinsten Kenner schätzen sie" (G 868)
- man soll mit den Augen sehen und mit dem Herzen verstehen (G 885)
- ist also: Lied "fürs Volk zur Bildung zum Volk" (G 871)
IV. Ziele der Sammlungsprojekte: erzieherisch
- "die alten Volkslieder als Instrument der Erziehung zur nationalen Denkart und nationalem Bewußtsein ... auf dem Horizont der allgemeinmenschlichen Volk-Idee." (G 928)
- Zwei Aspekte: national, aber zugleich übernational
- "die nationale und die anthropologische Tendenz sollten in der Stimme einer idealen Menschheit zusammenklingen" (G 844)
- Synthese: national + anthropologisch = die Stimme der Völker
- Funktionen der Volkslieder
- geschichtlich: ethnologisches und sprachliches Interesse
- die ursprünglichen Ideen der Menschheit zu verstehen
- starke ungekünstelte Dichtung aus dem Volk
- man entdeckt auch eine ursprünglich deutsche Denkart
- ethnologisch: das eigene Volk und auch fremde Völker zu verstehen
- Volkslieder "dienen zur Erkenntnis der Denkart der eigenen und fremder Nationen" (G 878)
- man kann "fremde Denkarten in die eigene übersetzen" (I 37)
- Volk hat reizende Einfalt, naiver Witz
- Förderung und Erhaltung des Nationalbewußtseins in bezug auf Literatur
- Erziehung einer nationalen Höhepunktsliteratur
- Vorteil: "freier Gebrauch des Fremden und des daran bewußt werdenden Eigenen" (G 844)
- schöpft eine Literatur, die ihrer eigenen Historizität bewußt ist
- Wiederaufrichtung des allgemeinmenschlichen Geistes und der Literatur
- Volkslieder können die verschwindende Leidenschaft und Phantasie der Gegenwartspoesie wiederbeleben
- "dienen als Anregung und Materialien für künftige Dichtung" (G 878)
- man soll die Volkslieder nicht als Muster nehmen, aber man soll danach streben, eine ähnliche Qualität im Ton zu erreichen
- "Nacheiferer wecke man, nicht Nachahmer" (I 50)
- eine Ganzheitsthematik: alle Menschen werden zum Volk
- das Volkslied kann jeden Menschen ansprechen
- Menschen werden mit der ganzen Seele erfaßt
- zeigt, "daß die Dichtkunst überhaupt eine Welt- und Völkergabe sei, nicht ein Privaterbteil einiger feinen, gebildeten Männer" (G 851)
- eine übernationale (europäische) Kultur
- eine Sammlung der Nationen wird "eine lebendige Stimme der Völker, ja der Menschheit selbst" (G 852)
- aber eine Autonomie des Individuums in der Geschichte bleibt erhalten
- Herder versucht, "die Sache selbst in ihrer Unvergleichbarkeit, das besondere Detail aus seinem Zusammenhang zu verstehen" (I 21)
- Verstehen des Details auch innerhalb seiner geschichtlichen Umwelt
V. Problematik
- Widerspruch?
- die Sammlung enthält auch neue, künstliche Gedichte im Stil der alten Volkslieder, wie z.B. Goethes "Heidenröslein"
- auch sind mehrere Pastiches aus verschiedenen Elementen beigelegt
- Lösung?
- Herder sieht keine Sünde darin, die alten Lieder zu 'polieren'
- auch die englischen Sammler hatten ihre Lieder verfeinert
- "der Improvisationscharakter des Liedes ... ist für Herder der Beweis unmittelbareren Empfindungsausdrucks und damit höherer poetischer Qualität" (G 864)
- das Wort alt "garantiert nicht Texttreue zum Original, sondern verspricht ein bestimmtes fremdes Hörerlebnis," das Herders Kriterien erfüllt (G 859)
VI. Herders Verstehen und Dialektik
- Zwei hermeneutische Methoden, in Bezug auf Volkpoesie:
- textimmanent
- historischer Kontext
- Synthese: Anschauung der Vergangenheit aus dem heutigen Kontext
- ein produktives Verstehen der Vergangenheit
- Ziel: "das Vergangene als das für die eigene Gegenwart Zukünftige zu interpretieren" (I 53)
- man kann die Vergangenheit nicht betrachten, ohne Anwendung auf die Gegenwart und ihre Zukunft (I 40)
- ein Erwecken des Gegenwartsbewußtseins, unter Einfluß der Vergangenheit
- Herders Methode des Verstehens: Sich-Hineinversetzen
- Um eine Kultur zu verstehen, muß man sich als Teil dieser Kultur fühlen;
- "Um Ossian zu verstehen, muß man 'ein roher Schotte werden ...'" (I 28)
- Voraussetzung: Standpunkt außerhalb der Geschichte
- die eigene Kultur ist der Leitfaden, der es verhindert, sich selbst in der fremden Denkart zu verlieren
- der Mensch ist immer an seiner eigenen Zeit verbunden
- jedoch ist man immer durch die Vergangenheit bestimmt
- man sieht den jetzigen Augenblick als "anbrechende Zukunft" (I 40)
Quellen:
H: | Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Band 3: Volkslieder, Übertragungen, Dichtungen. Hrsg. von Ulrich Gaier. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 1990. |
G: | Ulrich Gaier: Kommentar und Nachwort, in: Herder, Werke, Band 3 (wie oben), S. 841-927. |
I: | Hans Dietrich Irmscher: "Grundzüge der Hermeneutik Herders". In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1971. Hrsg. von J.G. Maltusch. Bückeburg: Grimme, 1973. |
Written and © Nancy Thuleen in 1995 for German 948 at the University of Wisconsin-Madison.
If needed, cite using something like the following: Thuleen, Nancy. "Referat: Herders Alte Volkslieder." Website Article. 22 March 1995. <http://www.nthuleen.com/papers/948Handout.html>.
|